Badezimmerfliesen aus eingeschmolzenen Schneidbrettern? Ziegelsteine aus zertrümmerten Kloschüsseln? Trockenbauwände aus gepressten Tetra-Packs? Und Wärmedämmung aus geschredderten Jeans? "Ja, das geht, und es war ein unglaublich großer Aufwand, all diese Produkte am Markt zu finden beziehungsweise mit den Produzenten gemeinsam zu entwickeln", sagt Roland Bechmann. "Aber die Recherche, die uns monatelang auf Trab gehalten hat, beweist, dass die Baubranche reif dafür ist."

Das Umar am ETH-Campus in Zürich-Dübendorf ist ein Labor für Bauen mit Recyclingbaustoffen. Die Box im zweiten
Obergeschoß wurde in Holz vorgefertigt, die Innenwände bestehen aus Tetrapackmüll, die Badezimmerfliesen aus eingeschmolzenen Schneidbrettern...
Foto: Zooey Braun

Auf dem Gelände der ETH Zürich in Dübendorf, ein paar Tramstationen von der Innenstadt entfernt, wurde vor einigen Jahren ein recht schmuckloses Betonhaus errichtet, das sich selbst als eine Art XXL-Regal für bautechnische Innovationen versteht und sukzessive mit neuentwickelten Modulen und neuen Elementen nachhaltigen Bauens gefüllt wird. Der jüngste Baustein, der im zweiten Obergeschoß mit einem Autokran zwischen die beiden Betondeckeln hineingeschoben wurde, hört auf den Namen Umar – das Akronym steht für "Urban Mining and Recycling" – und ist ein Exempel für Bauen mit wiederverwendeten und wiederverwerteten Materialien aus der Bau- und Konsumgüterindustrie.

Foto: Siegfrid Maeser

"Das Schöne an diesem Bau", sagt Bechmann, Partner im Stuttgarter Architektur- und Ingenieurbüro Werner Sobek, der das Projekt in Zusammenarbeit mit dem Karlsruher Institute of Technology (KIT) entwickelte, "ist zu sehen, dass man im nachhaltigen Bauen längst keine ästhetischen Kompromisse mehr eingehen muss. Früher war ökologische Architektur meist ein Synonym für Entsagung und Verzicht. Doch das ist vorbei. Re-Use und Recycling können richtig chic sein!"

Genutzt wird die rund 125 Quadratmeter große Showcase-Box am ETH-Campus übrigens als Studenten-WG für bis zu vier Personen. Bei Interesse müssen die hier Wohnenden die neugierigen Gäste in Empfang nehmen und ihnen eine Führung durch die Räumlichkeiten geben. Manche Dinge erklären sich ganz von allein, für die etwas versteckteren Werte hinter Wänden und Bodenaufbauten kann eine Broschüre zurate gezogen werden. 152 Seiten voller Aha-Erlebnisse.

Foto: Rene Müller

Symposien und Konferenzen

Vielleicht liegt es an der mit Corona verbundenen Besinnung auf Natürliches, vielleicht auch auf unserer gesteigerten Sensibilität für die fortschreitende Klimakrise, dennoch ist es überraschend, dass in den letzten Wochen das Thema in Symposien und Konferenzen hierzulande gleich mehrfach beleuchtet wurde – beim Symposium "Circular Strategies" an der Universität für angewandte Kunst, beim Jahreskongress der IG Lebenszyklus Bau, beim ÖGFA-Symposium "Stoffwechsel" sowie vorgestern, Donnerstag, beim ORTE-Online-Symposium "Von der Wegwerfgesellschaft zur Kreislaufwirtschaft". Und ja, Werner Sobeks Umar-Kiste flimmerte dabei nicht bloß einmal über die Zoom-Monitore.

Foto: Rene Müller

"Wir beschäftigen uns schon lange mit der Triple-Zero-Thematik, also null fossile Energien, null Emissionen, null Müll", sagt Bechmann. "In Bezug auf Müllvermeidung und Schonung materieller Ressourcen jedoch ist dies mit Abstand unser radikalstes und konsequentestes Projekt." Die Reise in die Welt des Recyclings war eine horizonterweiternde, bloß in einem Punkt, erinnert sich der Architekt, stoße die Kreislaufwirtschaft fast an Grenzen – im Bereich Elektro und Sanitär.

"So gut wie überall kann man Kleben durch Schrauben und Klemmen ersetzen, und so gut wie überall kann man auf Verbundbaustoffe verzichten, wenn man sich mit der Materie ein bisschen auseinandersetzt und die gewohnten Pfade verlässt. Doch bei elektrischen Verkabelungen und gedämmten, verklebt ummantelten muss man entweder aufgeben oder aber sich noch mehr anstrengen."

...und die Heizungsanlage wurde recycelbar installiert.
Foto: Zooey Braun

Letztere Taktik jedenfalls hat sich gelohnt. Laut eigenen Angaben ist das zum überwiegenden Teil im Holzwerk vorgefertigte Umar nach Ablauf seiner Lebenszeit zu 98 Prozent wiederverwertbar. Der Sondermüll, der üblicherweise den Großteil der Baggerschaufel ausfüllt, beläuft sich auf zwei Prozent. Das ist – abgesehen von Lehmbauten, Blockhäusern und traditionellen Bautypologien – im zeitgenössischen Bauen Weltrekord.

Foto: EMPA

Nicht mehr Utopie, sondern Alltag

Nicht nur in den Baustoffen, auch bei den Details erzählt das Umar eine schöne Geschichte von Vergänglichkeit und Ewigkeit: Die Kupferbleche an der Fassade, mit denen das Panoramafenster eingerahmt wurde, stammen von verschiedenen Bauwerken in der Umgebung und weisen daher auch unterschiedliche Oxidationsgrade auf. Und die Türknäufe, ein Entwurf des belgischen Designers Jules Wabbes, stammen aus einem Bankgebäude in Brüssel und kommen als leicht zerkratzte Vintageprodukte zum Einsatz.

"Bauen mit Recyclingbaustoffen und daher auch eine Eindämmung von Energieverbräuchen und CO₂-Emissionen", sagt Roland Bechmann, "das ist ohne jeden Zweifel die Zukunft der Baubranche. Vielleicht dauert es noch acht, vielleicht zehn, vielleicht zwölf Jahre, bis die Bauindustrie das kapiert und reagiert und in die eigene Philosophie integriert hat. Aber es wird kommen." Noch bewegen sich Recyclingprojekte rund 15 Prozent über den üblichen Baukosten, was sowohl der aufwendigen Baustoff- und Produktherstellung als auch dem dünnen Vertriebsnetz geschuldet ist. Doch die Preisdifferenz hat ein Ablaufdatum.

"Mit 25 Euro pro Tonne ist die CO₂-Steuer derzeit noch ein nettes Feigenblatt", sagt der Architekt. Das deutsche Umweltbundesamt beziffert einen ehrlichen CO₂-Preis, bei dem die Folgekosten nicht auf die Gesellschaft umgewälzt werden, mit 180 bis 205 Euro pro Tonne. "Spätestens dann wäre ein Haus wie das Umar mit einer konventionellen Bauweise kostengleich. Es ist eine Frage der Zeit und der Politik, bis dieses Projekt nicht mehr utopisch, sondern alltäglich ist." (Wojciech Czaja, 22.11.2020)