Blick auf den Mont Blanc von der italienischen Seite.
Foto: AFP/ANDREA BERNARDI

Den höchsten Gipfel der Alpen besitzt der Mont Blanc an der Grenze zwischen Frankreich und Italien: 4.810 Meter muss man bewältigen, wenn dort oben stehen will. Bergfexe der fernen Zukunft könnten allerdings noch höher hinauf müssen, denn die Alpen wachsen immer noch, stellenweise sogar mit überraschend großer Geschwindigkeit. Kräfte im Erdinneren drücken das Gebirge stärker nach oben, als die Erosion mithalten kann, wie nun ein Forscherteam unter der Leitung der Universität Bern im Fachmagazin "Earth Science Reviews" berichtet. Außerdem konnten die Wissenschafter zeigen, dass die Abtragung hauptsächlich vom Relief und der Geländeneigung abhängt, während Niederschlag und Wasserabfluss keinen deutlich erkennbaren Einfluss haben.

Über die kosmische Strahlung zur Abtragungsgeschwindigkeit

Wenn kosmische Strahlung auf die Erdoberfläche trifft, führt dies zur Spaltung von Sauerstoffatomen, die in Quarzkörnern eingelagert sind. Dabei entsteht ein neues Isotop, nämlich Beryllium-10 (10Be). Weil 10Be weitgehend nur auf der Erdoberfläche gebildet wird, lässt sich mit diesem Isotop auch das Oberflächenalter bestimmen. Ist die 10Be-Konzentration in den Quarzkörnern hoch, dann war die Oberfläche relativ lange der kosmischen Strahlung ausgesetzt, und ist damit auch relativ alt. Ist dagegen die 10Be-Konzentration im Quarz gering, war die Expositionszeit kurz und die Oberfläche ist entsprechend jung.

"Mit diesem Prinzip lässt sich auch die Abtragungsgeschwindigkeit der Alpen messen, und zwar gemittelt über ein paar Tausend Jahre", erklärt Fritz Schlunegger, der die Studie zusammen mit seinem Kollegen vom Institut für Geologie der Universität Bern, Romain Delunel, initiiert hat. Bergbäche und Flüsse sammeln auf der Oberfläche abgetragenes Material und transportieren es als Sand und Geröll ins Flachland. Das europäische Team rund um die Berner Forschenden hat für die Untersuchungen Sandproben aus mehr als 350 Flüssen aus dem ganzen Alpenraum verteilt auf ihren Quarzgehalt und insbesondere auf die 10Be-Konzentration in den Quarzkörnern hin untersucht. "Mit dieser Strategie können wir zum ersten Mal ein Bild über die Erosion der gesamten Alpen entwerfen und herausfinden, wovon die Erosion abhängt", sagt Delunel.

Die Abtragungsrate in Millimeter/tausend Jahre.
Grafik: Earth Science Reviews/Fritz Schlunegger et al.

"Fast schon langweiliger Abtragungswert"

Die Abtragungsraten zeigen eine große Streuung im Alpenraum und pendeln um die 400 Millimeter in tausend Jahren. Die schnellste Erosion wird im Wallis, und insbesondere im Illgraben (Kessel des Illbachs nahe Leuk) gemessen, wo die Erosion etwa 7.500 Millimeter pro Jahrtausend beträgt. Das Gebiet mit der langsamsten Abtragung liegt ebenfalls in der Schweiz: Die Landschaft in der Ostschweiz rund um die Thur wurde lediglich um 14 Millimeter pro tausend Jahre abgetragen. "Dieser Abtragungswert ist sehr gering, fast schon langweilig", meint Schlunegger. Interessanterweise erfolgt die durchschnittliche Hebung in den Zentralalpen, verursacht durch Kräfte im Erdinnern, aber schneller als die Abtragung.

"Das ist eine große Überraschung, denn bis jetzt sind wir davon ausgegangen, dass Abtragung und Hebung ungefähr gleich schnell ablaufen", so Fritz Schlunegger. In den Zentralalpen beträgt der Unterschied zwischen Hebung und Abtragung gar rund 800 Millimeter in tausend Jahren. "Damit wachsen die Zentralpen, und zwar überraschend schnell", stellt Schlunegger fest. In den Westalpen sind Abtragung und Hebung im Gleichgewicht; in den Ostalpen erfolgt die Abtragung sogar schneller als die Hebung.

Es kommt auf die Geländeform an

Die Forscher konnten dank ihren Untersuchungen auch zeigen, dass Niederschlag und Wasserabfluss keinen messbaren Einfluss auf die Abtragung haben, die Neigung und das Relief des Geländes hingegen schon. "Dies gilt allerdings nicht für sehr steile Landschaften", hälft Romain Delunel fest. Dort kommt der Fels großflächig zum Vorschein, und die Abtragung ist langsamer als erwartet. "Das war eine weitere Überraschung, denn wir dachten, dass ein sehr steiles Gelände sehr schnell abgetragen wird. Weshalb das nicht der Fall ist, wissen wir noch nicht. Daher sehen wir Bedarf nach weiterer Forschung", so Delunel.

Die Studie zeigt schließlich, dass die heutigen Abtragungsgeschwindigkeiten- und mechanismen auf das Wirken der großen Eismassen während der Vergletscherungsphasen zurückgeführt werden können, weil die heutige Geländeform während der letzten großen Vergletscherungen gebildet wurde. "Es ist unglaublich, welch großen Einfluss die Eismassen und die immer noch andauernde Alpenkollision auf die Form der Alpen haben", so die Studienautoren. (red, 27.11.2020)