Der ausgemergelte Kadaver dieses Orca-Weibchens zeigt, dass es an starkem Nahrungsmangel gelitten hat.
Foto: Raverty et al, 2020

Der vielleicht gelungenste Schockmoment im insgesamt eher durchwachsenen Film "Der weiße Hai 2" dürfte die Szene gewesen sein, in der ein toter Orca am Strand gefunden wurde, dem ein großes Stück Fleisch aus dem Leib gerissen worden war. Der Hai hatte wieder zugeschlagen.

In der Realität wäre ein solches Szenario äußerst unwahrscheinlich. Mit acht bis neun Metern Maximallänge übertrifft ein Schwertwal einen durchschnittlichen Weißen Hai deutlich und bringt auch das Doppelte bis Dreifache an Masse auf die Waage. Zwar konnte man mittlerweile beobachten, dass Weiße Haie sogar riesige Bartenwale attackieren. Ein Orca ist jedoch kein langsames Ziel, sondern seinerseits ein wendiger Räuber mit mächtigem Gebiss. Und zur individuellen Stärke kommt noch seine wichtigste Trumpfkarte: Als größter Vertreter der Delfine ist der Orca entsprechend intelligent und sozial. In der Gruppe aber sind Orcas de facto unangreifbar und damit die klaren Spitzenprädatoren der Meere.

Ausnahmeerscheinungen

Dieser Umstand spiegelt sich auch demografisch wieder: Haben Orcas erst einmal die Kindheitsjahre überstanden, sinkt ihre Sterblichkeitsrate mangels natürlicher Feinde rapide ab. Männliche Exemplare werden im Schnitt um die 30 Jahre alt, vereinzelt schaffen sie es auch bis in die 50er oder 60er. Letzteres ist bei den Weibchen der Normalfall, hier gehen die Ausreißer nach oben bis in die 90er. Das vermutlich 2016 gestorbene Weibchen "Granny" aus dem Nordostpazifik soll sogar 105 Jahre alt geworden sein. Orcas gehören auch zu jenen Ausnahmespezies, bei denen nicht mehr fortpflanzungsfähige Weibchen aufgrund ihrer Lebenserfahrung eine wichtige Rolle im sozialen Gefüge spielen.

Aber woran stirbt ein Tier ohne Feinde? Im Tierreich bleibt normalerweise nicht viel Zeit, um im Alter körperlich abzubauen: Gebrechlichkeit wird unmittelbar von Gefressenwerden gefolgt. Diesem Schicksal können sich nur wenige Spezies entziehen – wie ausgewachsene Elefanten, die in der Regel zwei letzte Wege beschreiten: Sie werden wegen ihres Elfenbeins abgeschossen oder verhungern, nachdem sich ihre Backenzähne abgenutzt haben. Ob es auch bei Orcas ein Muster gibt, haben Veterinärmediziner aus den USA und Kanada untersucht. Ihre Ergebnisse wurden im Fachjournal "Plos One" veröffentlicht.

CSI Orca

Die Untersuchung basierte auf den Kadavern von über 50 Schwertwalen, die zwischen 2004 und 2013 an der nordamerikanischen Pazifikküste oder auf Hawaii angespült worden waren. Auf diese konnte ein Nekropsie-Protokoll angewandt werden, das Joe Gaydos von der University of California und Stephen Raverty vom Landwirtschaftsministerium British Columbias entwickelt haben. Dieses Protokoll verknüpft die unmittelbare Todesursache mit der allgemeinen körperlichen Verfassung des Tiers, gemessen an der Dicke seiner Fettschicht und anderen Faktoren.

"J34", ein 18-jähriges Männchen, ist offenbar durch den Zusammenstoß mit einem Schiff vor der kanadischen Küste ums Leben gekommen.
Foto: Paul Cottrell / Fisheries and Oceans Canada

Immerhin bei 42 Prozent der Fälle konnte eine eindeutige Todesursache ermittelt werden. Die Bandbreite war groß, was einmal mehr zeigte, dass es nicht die eine Bedrohung gibt, vor der sich Orcas hüten müssen. Bei Jungtieren waren körperliche Missbildungen und Infektionskrankheiten die häufigsten Todesursachen; eines starb an einer Sepsis, nachdem es sich an einer Fangleine verletzt hatte. Infektionen und Befall durch einzellige Parasiten wie Toxoplasma oder Sarcocystis wurden auch bei halbwüchsigen und ausgewachsenen Exemplaren festgestellt. In diesen Altersgruppen traten aber außerdem noch Auszehrung durch Mangelernährung und schwere Verletzungen auf. Zwei der Tiere waren offenbar durch Kollisionen mit Schiffen zu Tode gekommen.

Dazu kamen noch verschiedene andere Faktoren, die für gesundheitliche Probleme gesorgt hatten: Ansammlungen verschiedener Umweltgifte im Körper, Tumore – und tatsächlich auch Haibisse. Diese stammten allerdings nicht vom Weißen Hai, sondern von Zigarrenhaien. Diese nur etwa einen halben Meter langen Tiere sind eher als Parasiten denn als Räuber einzustufen. Sie lauern unter anderem Robben und Walen auf, um ihnen schnell ein Stückchen Fleisch herauszustanzen. Wegen der charakteristischen Wunden, die sie dabei hinterlassen, werden sie im Englischen "Cookiecutter sharks" genannt. Lebensbedrohlich sind solche Wunden für ein so großes Tier wie einen Orca allerdings nicht.

Faktor Mensch

Doch lässt sich aus einer solchen Vielzahl an "Patientenakten" nun so etwas wie ein gemeinsamer Nenner ableiten? Laut den Forschern ja: Nämlich dass auf den Menschen zurückführbare Todesursachen Orcas in allen Abschnitten ihres Lebenszyklus betreffen, von der Kindheit bis ins Alter. Gezielte Tötungen spielen hier zwar keine Rolle – Orcas werden nur in Ausnahmefällen gejagt, und Unfälle mit Booten oder Schiffen sind per se unabsichtlich. Indirekt haben Orcas aber stark unter den vom Menschen geschaffenen Bedingungen zu leiden.

Weltweit gelten als wichtigste Belastungen, dass den Walen in manchen Regionen die Nahrung weggefischt wird und dass sie – am Ende der Nahrungskette stehend – in ihren Körpern all das Gift akkumulieren, das die mittleren Glieder dieser Kette aufgenommen haben. Insbesondere machen ihnen aus Weichmachern stammende polychlorierte Biphenyle zu schaffen. Diese schwächen ihr Immunsystem und beeinträchtigen die Fortpflanzung der Tiere. Außerdem gilt mittlerweile als gesichert, dass Sonarsignale die Echoortung der Orcas massiv beeinträchtigen. Vor allem militärisches Hochleistungssonar soll sie im Extremfall in den Tod durch Strandung treiben können.

Das Problem mit der Diversität

Die gute Nachricht: Als bedroht gelten Orcas trotz all dieser Gefahrenquellen nicht. Sie sind mit Ausnahme einiger Randmeere weltweit verbreitet, von Arktis und Antarktis bis zu den Tropen. Der Gesamtbestand wird auf mindestens 50.000 Tiere geschätzt. Dieses beruhigende Bild würde sich aber deutlich relativieren, wenn es nicht eine Orca-Art, sondern mehrere mit entsprechend kleineren Stückzahlen gäbe.

Ob sich "der" Orca biologisch betrachtet womöglich in verschiedene Unterarten oder gar Arten aufgliedert, ist aber ohnehin eine akademische Frage. Die entscheidenden Fakten schafft der Wal selbst: Die hochintelligenten Tiere haben nämlich verschiedene Kulturen hervorgebracht, sogenannte Ökotypen mit unterschiedlichen Lebensweisen. Zu einer gehört etwa die Spezialisierung auf Robbenjagd, zu einer anderen der Fischfang. Und diese Kulturen neigen dazu, sich voneinander abzugrenzen. Paarungen über diese selbstgeschaffenen Grenzen hinweg finden, soweit man weiß, nicht statt, selbst wenn sie biologisch möglich wären.

Und das bedeutet, dass beispielsweise eine gedeihende Hochsee-Population nicht die Bestände einer küstennah lebenden aufstocken kann, wenn diese aufgrund von Überfischung und daraus resultierendem Nahrungsmangel gefährlich geschrumpft ist. So gelten etwa die sogenannten Southern Residents, eine kleine Population an der Westküste der USA und Kanadas, als bedroht, weil es für sie nicht mehr genug Lachse gibt.

Immer noch viele offene Fragen

Solche Populationen im Ostpazifik sind extrem intensiv beforscht – aber eben nur ein kleiner Ausschnitt aus einem viel größeren Gesamtbild. Gaydos und Raverty ist bewusst, dass ihre Forschungsergebnisse ein unvollständiges Bild der Gesundheit und Sterblichkeit von Orcas zeichnen. Trotzdem sei es das umfassendste, das bisher vorliege. Sie plädieren dafür, einen weltweit einheitlichen Kriterienkatalog für die Untersuchung toter Schwertwale zu etablieren. Nur so könne man zu allgemeingültigen Aussagen über eine Tierart kommen, die zwar weltweit verbreitet und höchst populär ist – in vielerlei Hinsicht aber immer noch eine unbekannte Größe. (jdo, 6. 12. 2020)