Julia Pühringer: "Kultur, so wurde uns heuer politisch überdeutlich gemacht, sei ein verzichtbarer Luxus in Zeiten der Krise."

Foto: Imago/Frank Sorge

Preisträgerinnen: Mara Mattuschka, Filmemacherin und Künstlerin (links) und Tonmeisterin Nora Czamler. Weitere Preisträgerinnen sind: Kamerafrau Christine A. Maier ("Quo vadis, Aida?") und Oberbeleuchterin Kim Jerrett.

Foto: Elsa Okazaki / FC Gloria

Am Freitag fand die Verleihung der diesjährigen FC-Gloria-Filmpreise statt (DER STANDARD berichtete). Diese wurden 2018 ins Leben gerufen, um die Arbeit von Frauen* im Filmbereich sichtbar zu machen und ihre Bedeutung zu würdigen. Lesen Sie hier die Keynote der Journalistin und Filmexpertin Julia Pühringer.

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Wenn wir über Filme reden, davon schwärmen und darüber streiten, dann reden wir auch immer über uns, verhandeln unsere Position in der Welt. "Fragen nach den Werten sind oft – auch versteckt – in Fragen der Ästhetik eingebettet", schreibt Emily Nussbaum in ihrem Buch "I Like to Watch". "Auseinandersetzungen zum Thema Kunst waren immer auch Kämpfe darüber, was die Welt ernst nimmt, oder anders formuliert: Es waren politische Kämpfe. Kämpfe um die Macht."

Wer findet was oder wen spannend, zum Verlieben, verstörend, komisch, zum Fürchten, nicht auszuhalten oder auch einfach nur scharf?

Welche Themen, welche Genres halten wir für "wichtig" oder "unterhaltsam"? Was ist das überhaupt, "gute Unterhaltung"? Und für wen? Nichts davon ist wertfrei.

Film ist eine Kunst der Identifikation. Wir sitzen im Dunklen und lernen über die Welt und aus welchen Perspektiven man sie betrachten kann. Und, was wir dabei miterzählen – und das ist das Perfide daran –, ist auch, wie unsere Gesellschaft gestrickt ist. Wer kann sich wiederfinden in den Geschichten, die wir uns anschauen?

Es ist die alte Mär von der "Qualität" und von "Aber die Bilder" und von "Wer soll sich das anschauen?". Eine Auswertung aus dem Jahr 2017 vom Institut für Höhere Studien (IHS) belegt, es gehen oder gingen damals mehr Frauen ins Kino als Männer – völlig überraschend sind es bei Frauen etwas über 50 Prozent und bei Männern etwas weniger. Ich habe mich auf der Seite der Statistik Austria herumgetrieben, tatsächlich machen Männer im Alter zwischen 40 und 69 Jahren gerade einmal etwa 20 Prozent der Bevölkerung Österreichs aus, 23,7 Prozent der österreichischen Bevölkerung haben zudem Migrationshintergrund in erster oder zweiter Generation, europaweit identifizieren sich circa sechs Prozent der Bevölkerung als LGBT, also als lesbisch, schwul, bisexuell, transgender und intersexuell. Und fällt Ihnen da etwas auf? Mir nämlich auch.

Wessen Phantasien schauen wir uns an?

Diversität ist kein Stimmverlust, sie ist ein Gewinn. Denn wenn das Kino uns ein Blick in die Welt ist oder ein Spiegel der unsrigen sein soll, dann ist sein Bild jetzt verzerrt. "Wenn man gewohnt ist, bevorzugt zu werden, fühlt sich Gleichberechtigung wie Unterdrückung an", heißt ein Stehsatz, den das Internet hervorgebracht hat. Alle können und dürfen alles erzählen, hat es geheißen. Doch zählen wir nach, wird klar, das ist Behauptung, das hat der "Österreichische Film Gender Report" nur zu deutlich gezeigt.

Dabei ist Kino wie alle Kunstformen dafür da, unsere Phantasie zu beflügeln, unsere Vorstellungskraft und auch unsere Kampflust – aber kann es das, wenn man so viele Stimmen davon ausschließt? Beziehungsweise: Wessen Phantasien schauen wir uns an? Eine Filmkultur, die so viele Perspektiven negiert, kann das viel schlechter kaschieren, als sie glaubt.

In Österreich machen Frauen Kino, seit es Kino gibt. Es kann nicht angehen, dass sie von jeder Generation Filmemacher*innen und Kurator*innen und Studierenden neu entdeckt werden müssen, statt längst im Kanon zu stehen.

Wenn nur eine Gruppe unter Genieverdacht fällt, dann ist unsere Definition von Genie zum Wegschmeißen. Der Aufwand, mit dem wir diesen Stimmverlust normalisieren, ist beeindruckend. Sagen wir doch einmal "geballte Männerpower", wenn wir von Filmen, die von Männern geschrieben und gedreht werden, sprechen. Kann jemand, der andere Lebensrealitäten ignoriert, denn gut Geschichten von der Welt erzählen? Diese Frage allein gilt manchmal schon als obszön.

Gleich denken, gleich vögeln

Wenn nur Menschen, die gleich sozialisiert sind, gleich denken, gleich vögeln und gleich aussehen, bestimmen, was eine "gute" Geschichte ist, dann begeht diese Industrie einen Fehler. Wie Peter Blackstock meint, der Lektor mehrere Booker-Prize-gekrönter Romane von Autor*innen mit diversem Hintergrund, geht es darum, "die interessantesten und stärksten Geschichten, die es gibt, auszusuchen. Das ist eine Gelegenheit, die sich die Industrie nicht leisten kann zu versäumen." Er hat recht: Denn eine Unterhaltungsindustrie, die nur abbildet, was nicht einmal 20 Prozent der Bevölkerung spannend finden, die ist zum Scheitern verurteilt, sogar im Patriarchat.

Heuer ist das richtige Jahr, um über Abwesenheiten zu sprechen. Ich sitze hier nicht umsonst in einem leeren Kino. Kultur, so wurde uns heuer politisch überdeutlich gemacht, sei ein verzichtbarer Luxus in Zeiten der Krise. Als Arbeitsplatz und auch fürs Seelenheil. Man merkt, dahinter stehen Menschen, die kein Verständnis vom Erzählen von Geschichten haben und auch nicht von der Kraft, die davon ausgeht.

Still, verstörend, zum Fürchten oder zärtlich?

Die Arbeit der Frauen hält auch heuer alles am Laufen, Geld oder Prestige – noch nicht einmal Letzteres – gibt es trotzdem keins dafür. Wird das Nachher sein wie das Vorher? Nein. Die alte Frage wird mit noch größerer Dringlichkeit im Raum stehen: Welche Gesellschaft erzählen wir uns?

"Jagt den Krimi in die Luft!", schrieb die deutsche Autorin Simone Buchholz letztens in der "Zeit". Sie zeichnet das Bild der Kunst nach der Pandemie, fordert Zeitzeugenschaft von ihr. Das, was Buchholz beschreibt, hat nicht nur mit dem Krimi allein zu tun oder mit dem Schreiben, sondern mit dem Erzählen überhaupt: "Vieles kann weg", sagt sie. "Das meiste muss sowieso neu. Und irgendwer muss davon erzählen."

Ob das wild wird, heftig oder komisch, laut oder still, verstörend, zum Fürchten oder zärtlich und innig: Die Frage ist, mit welchen Geschichten wir hier herauskommen, wer sie erzählt und von wem sie handeln werden.

Und dann setzen wir uns wieder in ein Kino. Ins Dunkle. Vergessen kurz auf uns und finden uns dabei wieder, in all unseren Möglichkeiten. (Julia Pühringer, 5.12.2020)