Die Reaktionen auf die Verurteilung des Kreml-Kritikers Alexej Nawalny klangen ungewohnt harsch: "Wir akzeptieren dieses Urteil nicht", sagte EU-Ratschef Charles Michel. Der neue US-Außenminister Antony Blinken will Russland "zur Rechenschaft ziehen", sein britischer Kollege Dominic Raab spricht gar von einem "perversen Urteil".

Selbst diese harte Formulierung war wohlbegründet. Immerhin soll ein Mann ins Straflager, weil er gegen Bewährungsauflagen verstoßen habe, während er sich in Deutschland von einer Vergiftung erholte. Nach einem Giftanschlag mit einem Nervenkampfstoff wohlgemerkt, der sich in seiner Heimat Russland ereignet hatte und dort noch nicht einmal Anlass zu offiziellen Untersuchungen war.

Russland aber ist viel zu versiert im Umgang mit seiner eigenen geopolitischen Rolle, um diese Reaktionen nicht von vornherein eingepreist zu haben. Und weil man das auch in Europa und in den USA weiß, konnte man rhetorisch ruhig einmal ein bisschen härter auftreten. Mehr als den routinierten Hinweis auf die angebliche "Einmischung in innere Angelegenheiten" aus Moskau hatte man kaum zu befürchten.

Der Kreml-Kritiker Alexej Nawalny wurde zu dreieinhalb Jahren verurteilt.
Foto: imago/ITAR-TASS

Allerdings sitzt im Kreml ein Machthaber, der sich offenbar immer mehr in die Enge getrieben fühlt. Der in seiner Verbissenheit blamable Kampf gegen einen Kontrahenten zeugt nicht gerade von souveräner Amtsführung. Gleiches gilt für die Verhaftung tausender Demonstrantinnen und Demonstranten: Ein Aussitzen der Proteste durch Polizeigewalt nach Minsker Muster entspricht nicht dem Bild des populären Landesvaters, das Präsident Wladimir Putin gerne von sich zeichnet.

Die russische Wirtschaft stottert, die lauter werdende Opposition ist überwiegend jung, gut vernetzt und längst nicht mehr auf liberale Zirkel in der Hauptstadt Moskau begrenzt. Und sie konfrontiert die Staatsführung nicht nur mit Forderungen nach mehr Demokratie, sondern auch mit sehr konkreten Korruptionsvorwürfen.

Im STANDARD-Interview sagte kürzlich der US-Historiker Timothy Snyder: "Wenn Hillary Clinton eine Wahl verliert, setzt sie sich am nächsten Morgen hin, trinkt eine Tasse Kaffee und schreibt ein Buch." Gemeint war das als Gegenbeispiel zu Donald Trump, der ohne Amt fürchten müsse, im Gefängnis zu landen. Man kann es aber auch im Kontrast zu Putin sehen, der immer mehr als Getriebener der von ihm selbst geschaffenen Machtstrukturen erscheint. Für die Berechenbarkeit internationaler Politik ist das keine gute Perspektive.(Gerald Schubert, 3.2.2021)