Zoom-Fenster auf, herzlich willkommen. Wir haben uns längst daran gewöhnt, dass das Online-Tool alle physischen Events aufgesaugt hat, die anfangs üblichen Erklär-Satzbausteine wie "in diesen besonderen Zeiten" sind nicht mehr nötig. Es ist, um einen vielgeschmähten Begriff zu verwenden, die neue Normalität.

Auf diese heute normale Art wurde vorige Woche auch eine Ausstellung am Grazer Haus der Architektur (HDA) eröffnet, nämlich online, mit einem Jahr Verspätung und irgendwie nicht ganz. Aber in diesem Fall passte das sehr gut, denn die Normalität ist das Thema der Schau, und das Wesentliche passiert hier auch nicht im geschlossenen Museum, sondern draußen – und zwar weit draußen, am Grazer Stadtrand.

Aliens auf dem Acker: In Graz wächst die Stadt mit Wucht an den Rändern ins Umland.
Foto: transparadiso

Nicht neben Kunsthaus-Blob und Altstadtwelterbe, sondern zwischen Ausfallstraße und Acker, zwischen Shoppingcenter, Einfamilienhaus und Gewerbegebiet. Normal – direkter Urbanismus x 4 lautet auch der Name der Ausstellung, der sich den unspektakulären Rändern widmet. Das Grazer Kulturjahr 2020, das wie viele Kulturveranstaltungen pandemiebedingt ins Jahr 2021 hineindriftet, hat unter dem Motto "Wie wir leben wollen" speziell die Stadtentwicklung zum Thema gemacht. Die Ausstellung hatte ihren Titel schon 2019 bekommen, und dieser fand im Jahr der neuen Nicht-Normalität zu ganz neuen Bedeutungszusammenhängen.

Surreales Nebeneinander

Die Idee für NORMAL kommt von Barbara Holub und Paul Rajakovics vom Wiener Büro Transparadiso, die damit den Call der Stadt Graz gewannen. "Wir wollten den Begriff normal infrage stellen, weil wir selten darüber nachdenken, wie wir ihn genau definieren", sagt Barbara Holub. Die realexistierende Normalität lokalisierten Transparadiso am Stadtrand, dessen scheinbar plan loses Wuchern im Grunde ein Abbild rein ökonomischer Interessen ist. "Graz wächst stärker als Wien, und gerade an den Rändern geschieht das meistens durch anlassbezogene Umwidmungen", sagt Paul Rajakovics. Das geschieht nicht immer konfliktfrei. Dieser Tage streitet man sich in Graz um die geplante Ansiedlung eines Amazon-Logistikcenters mit vierstöckiger Parkgarage am Südrand der Stadt. Ist diese Art des Stadtwachstums normal?

In den 1960er-Jahren propagierten die französischen Situationisten das Prinzip des "dérive", des ungeplanten, neugierigen Bewegens durch die Stadt. Damals waren es die Straßen von Paris.

Heute würden sie vermutlich die zu touristischen Destinationen aufpolierten Stadtzentren meiden und sich am Stadtrand herumtreiben, mit seinen Brüchen und Widersprüchen, seinem surrealen Nebeneinander von Dingen, die nichts miteinander zu tun haben. "Die meisten Architekten interessieren sich nicht für die Peripherie, weil sie so unspektakulär ist, aber genau das fasziniert uns", sagt Barbara Holub. "Sie ist ein Ort, an dem man etwas entdecken kann."

Also recherchierten die beiden mit ihrem Partner Michael Petrowitsch in alle vier Himmelsrichtungen der steirischen Hauptstadt und luden Architektur- und Künstlerkollektive ein, sich jeweils einen Bezirk auszusuchen.

Qualitätssteigerung durch Entdichtung

Die Gruppe Orizzontale aus Rom übernahm passenderweise den Stadtteil Liebenau im Süden und entwickelte einen schwimmenden Archipel am Ufer der Mur und fragte mit der Unbefangenheit der Außenseiter bei den Grazern nach, was ihnen der Fluss bedeutet.

Das Londoner Kollektiv Public Works nahm sich den darbenden Hauptplatz im nördlichen Andritz vor, näherte sich dem Ort zuerst künstlerisch über collagenartig -assoziative Aquarellzeichnungen und und richtete dann eine "School for Civic Action" ein, um Ideen zu mobilisieren.

Der deutsche Künstler Georg Winter suchte sich ein Feld am westlichen Stadtrand in Wetzelsdorf aus, um in Kooperation mit der dort ansässigen Landwirtschaftlichen Fachschule Grottenhof einen TanzPflanzPlan zu entwickeln, eine Mischung aus Gemüseanbau und Bewegungsperformance.

Aktion "PLATZEN" von Public Works auf dem Hauptplatz in Andritz.
Foto: transparadiso

Klingt zunächst esoterisch, ist aber ganz anders gemeint, sagt Georg Winter. "Wetzelsdorf hat mich sofort fasziniert, weil dort das Städtische auf das Ländliche trifft. Urbanisten und Architekten propagieren immer die Verdichtung, was aber auch auf eine Dominanz gegenüber dem Land hinausläuft."

Stattdessen wurde der Boden über Monate gärtnerisch-tänzerisch aufgelockert und dabei handfest-nachweisbar verbessert, eine Qualitätssteigerung durch Entdichtung sozusagen. Eine eigens entwickelte Samenmischung ("Wetzelsdorfer Mischung") wurde an 800 Haushalte verteilt, ein anschauliches Mittel, um die Frage zu diskutieren, wie man Gemüseanbau, Selbstversorgung und Wohnviertel zusammenbringen kann. Kein kurzfristiger Aktionismus, denn gerade für den Stadtrand sind solche "weichen" und ländlichen Methoden wie Bodenauflockerungen und ephemere Tanzperformances besser geeignet als das schwere Gerät städtisch-bürokratischer Planungsmaschinerien.

Aktionismus statt Konsens

Das östliche Waltendorf schließlich übernahmen Transparadiso selbst. Hier werden sie den (mittlerweile dritten) "Congress of missing things" veranstalten, schon jetzt sammeln sie dafür Einsendungen von Anwohnern, die das benennen, was hier fehlt. "Vielen fehlt hier ein richtiges Zentrum, denn Waltendorf hat in der Tat keines", sagt Barbara Holub. "Wir sichern aber nicht nur konkrete, sondern auch poetische Qualitäten, die hier fehlen."

Foto: transparadiso

Diskutiert wird dies dann im Juli vor Ort, allerdings, betonen Transparadiso, sei das nicht als Partizipationsprojekt zu verstehen. "Bürgerbeteiligung will immer den Konsens, darum geht es hier nicht. Wir verstehen es mehr als stillen Aktionismus mit künstlerischen Methoden, durch die auch andere Dinge zur Sprache kommen." Hier knüpft man an den Begriff der Wunschproduktion an, der 1995 vom semi anarchischen Kollektiv Park Fiction in Hamburg als Methode der Stadtentwicklung verwendet wurde.

Selbst wenn das Ergebnis ist, dass es einfach mehr Spaß macht als gewöhnliche Bürgerbeteiligung, ist schon viel erreicht, und sei es nur ein Ventil für den Dauerdruck unserer Ausnahmesituation. "Ein Jahr lang war Angst vor Krankheit und Jobverlust das einzige Thema", sagt Barbara Holub. "Aber welche Qualitäten machen wirklich unser Leben aus? Wie kommt man mit der Angst vor dem Nicht-Planbaren zurecht?"

"Wenn wir aktiv werden, können wir die Hilflosigkeit überwinden. Kunst und Kultur können uns dabei helfen." Dies sollen sie auch über das Kulturjahr hinaus. In allen vier Ecken von Graz sollen die Ideen Wurzeln fassen. Bei der geplanten Stadtrandwanderung rund um Graz darf man sich davon ein Bild machen. Außer natürlich, die Normalität ändert sich wieder. (Maik Novotny, 07.02.2021)