Der Tag hat nur 24 Stunden, ein ewiger Fluch, die Zeit rennt. Francesca Torzo sitzt in ihrem Arbeitszimmer in einem alten Wohn- und Bürohaus hoch oben in den Hügeln von Genua, Stadtteil Castelletto. Hinter ihr abgeschabte Wände, dunkel verspachtelt und farblos eingeölt, wie eine eckige Höhle. Aus dem Fenster sieht sie hinaus aufs Ligurische Meer, Schiffe auf dem Wasser, glitzernde Sonne am Horizont. "Ich könnte ewig lang da rausschauen, dieser Blick gibt mir Kraft und Leidenschaft", sagt sie. "Aber es gibt viel zu viel zu arbeiten, und der Tag ist eh schon so kurz." Drei kurze Zigarettenzüge, ein nachdenklicher Blick, weiter geht’s.

Die zeitintensive und behutsame Planung ist Francesca Torzos Markenzeichen – und ein Aufruf zu mehr kultureller Verantwortung.
Foto: Julia Nahmani

Francesca Torzo, 45 Jahre alt, ist so etwas wie Italiens Architekturgöttin für Sinnlichkeit und Langsamkeit. Ihre Projekte startet sie, indem sie sich in die Literatur eines Ortes einliest und Gespräche mit Einwohnern und Bewohnerinnen führt, indem sie sich dem Ort mit Zeichnungen und Aquarellmalerei annähert, indem sie ihre ersten formalen Ideen mit der Hand formt, mit Modellen aus Holz, Keramik, Porzellan. "Bevor man etwas tut, muss man beobachten und nachdenken. Alles andere ist respektlos."

Auf dem Sideboard in ihrem Arbeitszimmer sind Vorstudien zu diversen Projekten zu sehen. Kleine Gemälde, technische Zeichnungen, handgefertigte Prototypen aus Ton. Auch ein Ziegelprototyp für das Z33 House for Contemporary Art im belgischen Hasselt, Ostflandern. 2011 hat sie den Wettbewerb zur Erweiterung des zeitgenössischen Kunst- und Designmuseums gewonnen, eines heterogenen Komplexes aus unterschiedlichen Backsteinbauten aus dem 19. Jahrhundert sowie aus den späten 1950er-Jahren. Eine Ziegelorgie mit vielen verschiedenen Farben und Formaten.

Foto: Gion Balthasar von Albertini

35.000-mal gestreichelt

"Ich habe den Ort viele Male besucht und die Strukturen und Tonmischungen studiert", sagt Torzo, "und es hat sich gezeigt, dass ich in diese zwar schöne, aber zeitlich gestaffelte Unordnung etwas mehr Ruhe hineinbringen möchte." Für die neue Fassade hat sie ein eigenes Fliesenformat entwickelt – rautenförmig, 37 Millimeter dick und von einem so schönen, seidenmatten Ziegelrot, dass man am liebsten hingreifen und die Mauern streicheln will. 34.494 Stück, allesamt von Hand verlegt, hüllen den massiven Zubau in ein mineralisches Kleid.

"Mir war klar, dass hier so viele Menschen vorbeispazieren werden, dass sie die Wände in der Tat streicheln und vielleicht sogar mit ihrem eigenen Schattenbild spielen werden", erzählt Torzo. "Daher habe ich mich dazu entschieden, eine besonders sanfte, angenehme Oberfläche mit einer möglichst feinen Körnung zu kreieren." An der Rezeptur und den Zuschlagstoffen wurde so lange herumgefeilt, bis die ersten gebrannten Ziegelrauten den haptischen Test bestanden haben. Die Architektin, einen ganz konzentrierten Blick in den Augen, neigt den Kopf leicht zur Seite und streicht sich mit der flachen Hand über ihre rechte Wange. "Genau so habe ich das gemacht."

Den Streicheltest bestanden: handgefertigte Ziegelfliesen für das Z33 House for Contemporary Art
in Hasselt, Belgien.
Foto: Gion Balthasar von Albertini

Francesca Torzos Plädoyer für Sinnlichkeit und Langsamkeit ist nicht zuletzt eine Kampf ansage an die heutigen Ausformulierungen zeitgenössischer Architektur und hirnloser, renditegeiler, immobilienwirtschaftsgetriebener Kubaturproduktion vom Fließband. "Die Dynamik in der Bauwirtschaft macht mir zu schaffen. Es entstehen Millionen von Häusern und Legebatterien, die niemandem gefallen, die keinerlei Wünsche und Wohnsehnsüchte befriedigen und die keinem kulturellen, gesellschaftlichen Leitbild folgen. Sie sind einzig und allein Symbole für finanzielle Macht. Ich kann das einfach nicht. Zum Glück stehe ich mit dieser Einstellung nicht allein da. Es gibt genug Menschen, genug Bauherren und Auftraggeberinnen, die meine Werte teilen und mir Arbeit geben."

"Will nicht provozieren"

Foto: Der Standard

Ihre radikal langsame und radikal mit den Sinneswahrnehmungen kokettierende Architektur will sie keinesfalls als Provokation an der Disziplin verstanden wissen. "Ich will niemanden provozieren. Aber ich will uns wachrütteln und darauf hinweisen, dass wir als planende und bauende Menschen eine kulturelle Verantwortung tragen. Wie kurz ist unser Leben auf dieser Welt? Wie kurz ist unsere Schaffenszeit? Und wie lange bleiben die von uns geprägten Städte bestehen? Dessen sind sich die meisten nicht bewusst. Wir sind so unachtsam geworden!"

Wie plant man eine Puppe?

Aktuell arbeitet sie an einem Studentenheim in Italien, an einem Aussichtspavillon in Yangshuo, China, sowie an einer Modeboutique in Paris, für die sie sogar die Mannequins in den Schaufenstern selbst entwirft. Francesca Torzo verkörpert eine ganzheitliche Auffassung von Architektur, wie wir sie alle in den Kunstgeschichteskripten studiert – und dann wieder vergessen haben. Mag sein, dass ihre mit Samthandschuhen perfektionierte Architektur nicht für die breite Masse multiplizierbar ist. Ihr Geist und ihr Wertesystem aber sehr wohl. Zum Beispiel heute Abend um 18.30 Uhr. (Wojciech Czaja, 5.3.2021)