Walter Benjamin soll gesagt haben, dass ein Kammerorchester ohne eine Kammer nicht denkbar sei. Hongkongs Regierung, die vor einem Vierteljahrhundert eine "kulturelle Wüste" mithilfe von Stararchitektur zu einer internationalen Kunstkapitale machen wollte, dürfte dem Diktum des deutschen Kulturtheoretikers voll zugestimmt haben.

Dafür steht heute der buchstäblich aus dem Nichts herausgewachsene West Kowloon Cultural District (WKCD), der noch vor zwei Jahrzehnten abseits vom Stadtzentrum lag. Für das dem Naturhafen abgerungene, mehr als sieben Fußballfelder große Areal hat der britische Architekt Norman Foster 2001 einen kühnen Masterplan vorgelegt – mit Museen, Theatern, Luxushotels und einem alles zusammenfassenden Vordach. Nach Jahren äußerst giftigen politischen Gezerres zwischen Obrigkeit, Opposition und mächtigen Immobilienkonzernen jedoch ist von alledem nur wenig übrig geblieben.

Imposant ist das M+ allemal – aber was wird es ausstellen?
Foto: Virgile Simon Bertrand

Das Kernstück des WKCD hat überlebt: Trotz aller Widrigkeiten wurden die Bauarbeiten für das sogenannte M+ Ende letzten Jahres fertiggestellt. In wenigen Monaten soll das Museum der Superlative aus der Feder des Schweizer Architekturbüros Herzog & de Meuron eröffnet werden. Das 18 Stock hohe Bauwerk beherbergt nicht nur 16.000 Quadratmeter Ausstellungsfläche für asiatische Kunst des 20. und 21. Jahrhunderts, sondern auch Lagerhaus und Verwaltungsflächen. Gleichsam abgerundet wird der Haupttrakt von einem an der Außenfassade angebrachten, 100 Meter breiten und 65 Meter hohen LED-Display, mit dem das Museum künftig Kunst in die 7,5 Millionen Einwohner zählende Stadt hinausprojizieren will.

Finanzieller Ruin?

"Das ikonische Gebäude ist auf gutem Weg, ein weiterer Baustein in der globalen Kunst- und Kulturlandschaft zu werden", ließ die Museumsleitung anlässlich einer für lokale und internationale Medien organisierten Tour der noch nackten Räumlichkeiten wissen. Suhanya Raffel, die aus Sri Lanka stammende Direktorin, scheut nicht davor zurück, das M+ mit so bekannten Institutionen der modernen und zeitgenössischen Kultur wie dem New Yorker Moma, dem Pariser Centre Pompidou oder der Londoner Tate Modern zu vergleichen.

Allerdings erweist es sich einmal mehr, dass die Erstellung eines Baus einfacher ist, als dieses auch zweckbestimmt zu befüllen. "Ich mag die von Herzog & de Meuron entworfenen, großen, offenen Räume", sagt John Batten, einer der führenden Hongkonger Kulturkritiker. "Jetzt kommt es aber darauf an, dass die für sie bestimmte Kunst gut in sie hineingepasst werden kann." Wie groß diese den Kuratoren gestellte Aufgabe ist, zeigt schon einmal die Tatsache, dass die Finanzierung des Betriebs von M+ nicht gesichert ist. "WKCD steht vor dem finanziellen Ruin", lautete Ende 2020 die Schlagzeile in der lokalen englischsprachigen Tageszeitung South China Morning Post.

Demnach haben sich die Kosten für das Projekt von den ursprünglichen, vom lokalen Parlament bewilligten 21 Milliarden Hongkong-Dollar (rund 2,2 Milliarden Euro) auf mittlerweile über 70 Milliarden HK-Dollar fast vervierfacht. Angesichts der hohen Fiskalreserven der Regierung ist Geld nicht das größte Problem. Eine weit brisantere Herausforderung ist das repressiver werdende politischen Klima.

Noch sind die Hallen leer – das wird sich bald ändern.
Foto: Kevin Mak

Der jüngste Skandal basiert auf Aussagen, dass das M+ kein Problem damit hätte, auch kontroverse Werke des dissidenten chinesischen Kunstschaffenden Ai Weiwei zu zeigen. Der Aufschrei von Teilen des auf pekingtreuen Kurs fahrenden Establishments war so groß, dass auch Regierungschefin Carrie Lam Vorsicht walten lassen musste: "Die Behörden sind auf voller Alarmbereitschaft, um sicherzugehen, dass das Museum die nationale Sicherheit nicht untergräbt."

Um solche Fragen kümmert sich bis jetzt nur eine kleine Minderheit der Besucher des WKCD. Der dazugehörende Park ist vor allem wegen seiner Uferpromenade beliebt. Auf die Frage des STANDARD an eine Passantin, einen Hund an der Leine führend, was das M+ denn sei, antwortet diese, das sei nicht wichtig. "Was für mich hier zählt", so Nina Fung, "ist vor allem die Tatsache, dass das WKCD der einzige Stadtpark weit und breit ist, in dem Hunde Gassi geführt werden können."

Nach Meinung von Stadtplanern gibt es allerdings noch weit gewichtigere Gründe dafür, dass auch die Öffentlichkeit dem kolossalen Bauwerk bisher wenig Interesse entgegengebracht hat. Das mit seinen über 9000 Hochhäusern dichtestbevölkerte urbane Zentrum der Welt hat in den vergangenen Jahren – angefeuert von explodierenden Immobilienpreisen und den von der Regierung getätigten Investitionen in Infrastrukturprojekte – einen Baurausch erlebt.

Immer höhere Wolkenkratzer, immer länger werdende Brücken und immer prachtvoller herausgeputzte Bahnhöfe haben das Stadtbild innerhalb von zwei Jahrzehnten radikal verändert. "All diese Bauten können eine abgeklärte Bevölkerung nicht mehr aus dem Sessel reißen", sagt etwa ein Hongkonger Architekt, der aus Sorge um zukünftige Aufträge nicht genannt werden will. "Es herrscht hier eine gewisse Architektur-Fatigue. Neben den Prestigebauten, die Ende des 20. Jahrhunderts fertiggestellt wurden, darunter etwa der von Norman Foster entworfene Sitz der Großbank HSBC oder der Bank of China Tower nach Plänen von Ieoh Ming Pei, wird es das M+ so oder so schwerhaben."

Urbaner Mittelpunkt

Das heißt allerdings nicht, dass das M+, sobald es übergeben sein wird, kein Publikumsmagnet werden könnte. Das ist gleichsam schon strukturell im Bau enthalten, führt doch der das bisherige Zen trum Hongkongs mit dem Flughafen verbindende Eisenbahntunnel genau unter dem Museum hindurch. Die Architekten und Ingenieure haben dieses unterirdische Hindernis unter dem Motto "Gefundener Raum" durch eine Öffnung nach unten gestalterisch gleichsam ins Gebäude miteinbezogen und damit auch den urbanen Mittelpunkt der Stadt ein Stückchen näher an das Museum gerückt.

Eine weit größere Sogwirkung dürfte indes die nur 500 Meter vom WKCD entfernt liegende West Kowloon Station haben. Die vor zwei Jahren eröffnete Endstation des chinesischen High-Speed-Bahnnetzes mit insgesamt 15 Gleisen bindet die ehemals britische Kolonie enger an Festlandchina an.

Hongkong erlebt, was Städte im 19. Jahrhundert nach dem Anschluss an das Bahnnetz erlebten. Offen bleibt allerdings, inwiefern sich diese urbane Revolution auf das Ausstellungsprogramm von M+ auswirken wird. (Ernst Herb, 02.05.2021)