Der Wiener Naschmarkt hat eine bewegte Geschichte. Im 18. Jahrhundert begann er als kleiner Bauernmarkt außerhalb der Stadtmauern am heutigen Karlsplatz. Seinen Namen hat er von der ursprünglichen Bezeichnung „Aschenmarkt“ (Aschedeponie), und 1820 wurde Naschmarkt daraus. Wie in anderen europäischen Städten wurde auch Wien am Ende des 19. Jahrhunderts großräumig umgebaut. Infrastruktur kam, Flüsse wurden überbaut und große, monumentale Bauten errichtet. 1899 wurde die Stadtbahn eröffnet, deren Trassenführung Otto Wagner plante, und ab 1902 wurde der Markt auf seine heutige Lage versetzt, mit einheitlichen Marktstandln, einem zentralen Marktamt und einen großflächigen Viktualienmarkt daran anschließend. Der Großmarkt erwies sich als unpraktisch, und seit 1977 gibt es hier (oder nun gerade nicht) den Flohmarkt. Fast wäre der Naschmarkt einem typischen Bauprojekt der 1970er-Jahre geopfert worden. Die Westautobahn sollte bis ins Zentrum hinein verlängert werden. Stadtautobahnen haben sich zum Glück nicht bewährt. Die Städte, in denen sie gebaut wurden, leiden noch heute darunter, und in Wien ist es manchmal richtig gut, dass es etwas länger dauert, bis Projekte Fahrt aufnehmen.

Betonplatten in zwei Farben? Da geht noch mehr!

Früher gab es eine klare Hierarchie zwischen Außen- und Innenbereich des Naschmarkts. In der zweiten Reihe, also in Richtung 6. Bezirk, waren eher die Fleischhauer situiert, in der Mitte das Obst und Gemüse. Heute ist die zweite Reihe ein fast durchgängiges Gastronomielokal, vielleicht sogar das längste der Welt. Einige wenige Clans teilen sich die lukrativen Standflächen auf, es schweben astronomische Ablösesummen im Raum, und im Grunde gleichen sich Standln, Lokale und Waren wie ein Ei dem anderen. Vielfalt sieht anders aus.

2010 wurde der Naschmarkt saniert. Fünf Jahre lang herrschte hier Großbaustelle, eine für Standlbesitzerinnen und Standlbesitzer sowie Besuchende sehr unangenehme Situation. Das Ergebnis war, ähm, fast unsichtbar. Gut, die Stadt hatte unterirdisch Wasser- und Stromleitungen erneuert und eine Problem- und Sammelstoffanlage errichtet. Aber, hey, Infrastruktur wie Kanal und Abfallentsorgung gehört zum Tagesgeschäft einer Stadt. Das sichtbare Ergebnis waren ein paar ockerfarbene Betonplatten zwischen den grauen, da hätte es vielleicht spannendere Oberflächen gegeben im Sortiment der öffentlichen Platzgestaltung. Aber man will ja nicht überkritisch sein und freut sich schon, wenn nicht mehr verhaut wurde.

Ein Zelt wäre auch eine gute Möglichkeit anstelle einer Halle.
Foto: Vene Meier
Bunte Markisen schützen auch vor Sonne und Regen.
Foto: Sabine Pollak
Der Stillstand im Lockdown lässt nichts Gutes erahnen.
Foto: Sabine Pollak

Paradiesgarten Naschmarkt

Die wesentliche Veränderung des Naschmarktes war eine inhaltliche. Immer mehr Stände gaben das Geschäft mit Gemüse und Obst auf zugunsten von fragwürdigen Souvenirs oder neuen Geschäftsideen wie Wasabi- und anderen bunt gefärbten Nüssen. Wenn man mit den letzten verbleibenden Standlern spricht, ist die Stimmung mehr als schlecht. Im Normalbetrieb ist der Markt voll mit Touristinnen und Touristen, die fotografieren und nichts kaufen, und Wienerinnen und Wiener wiederum kaufen lieber in einem der zahlreichen Geschäfte in den anliegenden Bezirken. Und da hat sich Einiges getan im Angebot an frischer, biologischer Ware.

Der Konkurrenzdruck steigt und im Hintergrund lauern schon die nächsten Clans, um wieder ein Lokal eröffnen zu können. Der völligen Kommerzialisierung wirkten schon immer Kunstprojekte entgegen. 2010 etwa wurde der Naschmarkt zum „Paradiesgarten“ erklärt, wurde mit Kunstuniversitäten beforscht und eine ganze Nacht lang wild befeiert. Das Projekt zeigte, wie gut sich das Areal mit seinen letzten verbliebenen Protagonistinnen und Protagonisten für eine Szene eignet, die es vermag, abseits von Allerweltstourismus Konzepte zu entwickeln, die sich kritisch und kreativ mit der Frage auseinandersetzen: Was ist eigentlich ein Markt?

Zehn Jahre später ist leider nicht alles beim Alten. Der Naschmarkt ist ausgedünnt, die angebotenen Waren und Souvenirs werden immer absurder und die letzte offene Freifläche, auf der es ein wenig bunter und wilder zugeht, ist der Bauernmarkt am Samstag. Es ist ein hartes Geschäft, das ist klar, und die Stadt sollte diese letzten verbleibenden Standplätze fördern, wo es nur geht.

Gewürze-Vielfalt. Ein riesiges Glas-Stahldach produziert keine Vielfalt.
Foto: Sabine Pollak
Der Naschmarkt ist lang und schmal. Warum eine Riesenhalle am Ende?
Foto: Sabine Pollak

Ein Hauch von London und von neoliberaler Stadtplanung

Und nun kommt die Markthalle, oder besser gesagt, eine sehr große, seitlich offene Überdachung eines sehr großen Areals angrenzend an den Bauernmarkt, also da, wo bislang der Flohmarkt situiert war. Stadträtin Ulli Sima spricht von einem „Hauch von London“, der sich unter dem offenen Dach auftun würde. Ein Hauch von London? Ein Hauch von Neoliberalismus wohl eher. Was hat denn der Wiener Naschmarkt mit London zu tun? Es wird mit der Überhitzung und fehlendem Schatten argumentiert. Und dazu lässt man gleich ein Rendering anfertigen, das eine hoch aufgeständerte Dachkonstrutkion aus Glas zeigt, bei der mir beim Hinschauen schon die Augen wehtun wegen des grellen Lichts.

Ich denke, es gibt da ein grundlegendes Missverständnis, was Renderings betrifft. Renderings dienen dazu, ein Konzept, das in Plänen ausgearbeitet ist, räumlich darzustellen. Hier ist es aber umgekehrt, da ist zuerst das Rendering da, bevor noch die Idee eines Plans existiert. Das ist gefährlich, denn Bilder setzen sich fest. Und dieses Bild ist gelinde gesagt letztklassig. Es vermittelt die Idee einer gewagten Konstruktion, ohne dass sich irgendjemand Gedanken darüber macht, was denn eigentlich drunter Gewagtes passieren soll. Wer soll denn hier welche Waren verkaufen? Am Naschmarkt selbst sperrt noch der letzte Gemüsehändler zu, und hier soll es nun florieren? Und was bitte kann ein solches Dach zu einem besseren Stadtklima beitragen? Entweder es ist in Wien richtig heiß, dann wird die Sonne draufknallen. Oder es blast ein kalter Wind, kennen wir im Wiental, der wird dann durch die offene Halle fetzen. Viel Spaß!

Ich hasse Wasabinüsse

Ich denke, es gibt ein grundlegendes Missverständnis, was solche Projekte betrifft. Auch die Grünen lieferten ein Bild, das Gegenbild sozusagen. Auf dem Bild ist die Asphaltfläche gepflastert und ein paar Grüninseln mit Gräsern und Gestrüpp verteilen sich. Zum einen überzeugt die Pflasterung im Jahr 2021 nicht wirklich, zum anderen stellt sich auch hier niemand eine inhaltliche Frage. Und diese müsste zuerst geklärt werden. Da hilft auch die groß angelegte Bürgerbeteiligung nichts. Und überhaupt: Bürgerbeteiligungen, die mit solchen Images verknüpft sind, sind fatal. Die Frage ist doch, was ein Markt zukünftig sein kann. Es braucht also ein kleines, schnelles Miniforschungsprojekt, eine kurze Exkursion zu Best-Practice-Beispielen in Kopenhagen und Barcelona und ein inhaltliches Konzept, basierend auf einer neuen und frischen Idee für einen Markt im 21. Jahrhundert. Aber das Londoner Hightech-Dach bringt gar nichts. Im Übrigen würden es vielleicht große Schirme auch tun. Anknüpfend daran wäre zu fragen, wie man den Autoverkehr aus dem Wiental weg und die Bewohnerinnen und Bewohner dazu bringt, wieder Waren am Naschmarkt einzukaufen, sofern sie angeboten werden. Bin ich eigentlich die Einzige hier, die Wasabinüsse hasst? (Sabine Pollak, 12.5.2021)

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