Rechtsanwalt Alfred J. Noll schreibt in seinem Gastkommentar zur möglichen Anklage des Kanzlers über das hohe Gut der Unschuldsvermutung. Wer an diesem zivilisatorischen Fortschritt festhalten wolle, der müsse auch manche "Nachteile" in Kauf nehmen.

Wer sich die Mitteilung der Staatsanwaltschaft an Herrn Kurz durchliest, der hat ausreichend Gründe, anzunehmen, dass es zu einer Anklage gegen den Bundeskanzler kommen wird – da ist ein gewisser "Zug zur Erledigung" herauszulesen, die meinen das ernst.

Kaum bekannt geworden, stellte sich die Opposition öffentlich die Frage, ob ein Strafantrag gegen Sebastian Kurz notwendig dessen Rücktritt als Kanzler erfordere. Und wie bei den Pawlow’schen Zwingerhunden schon die Schritte des Besitzers den Speichelfluss auslösten, obwohl noch gar kein Futter in Sicht war, ertönte unisono die Forderung: Wenn der Bundeskanzler angeklagt werde, dann müsse er zurücktreten. Und Pamela Rendi-Wagner legte noch eins drauf, indem sie ihrem Gesinnungsfreund und Parteifeind Hans Peter Doskozil über die Medien ausrichten ließ, dass dies auch für ihn zu gelten habe.

Die Opposition erhöht den Druck: Kanzler Sebastian Kurz denkt nicht an Rücktritt.
Foto: APA/Schlager

Der damit geforderte Automatismus Anklage ? Rücktritt, einerlei ob er Kurz oder Doskozil betrifft, ist bedenklich: Für uns alle sollte Artikel 6 Absatz 2 EMRK eine "secular religion" sein: "Bis zum gesetzlichen Nachweis seiner Schuld wird vermutet, dass der wegen einer strafbaren Handlung Angeklagte unschuldig ist."

Diese Unschuldsvermutung ist ein zivilisatorischer Fortschritt. In der Sache heißt dies nichts anderes, als dass vor einer Verurteilung – abgesehen von Sicherungsmaßnahmen – keine Konsequenzen an einen bestehenden Verdacht geknüpft werden dürfen. Dem wird entgegengehalten, dass doch Politiker höheren moralischen Anforderungen unterstünden als wir "Normalmenschen". Ich sehe aber nicht, dass sich dies begründen ließe. Wessen Moral wäre denn entscheidend? Die Moral derjenigen, die am lautesten brüllen und sich der Medien als gefällige Verstärker bedienen könnten?

Im Moral-Tohuwabohu

Dieses zivilisatorischen Fortschritts sollten wir nicht im Gewirr tausenderlei verschiedener Moralvorstellungen und des dadurch verursachten Moral-Tohuwabohus verlustig gehen. Auch und gerade für Politiker sollte gelten: Sie haben den Gesetzen zu folgen; und wenn sie nachgewiesenermaßen (!) dagegen verstoßen haben, dann sollten sie gehen. Wer in der Tatsache einer bloßen Anklageerhebung eine zwingende Verpflichtung zum Rücktritt sieht, der unterminiert die Unschuldsvermutung. Es ist ein Unding, einerseits zu sagen: "Ja, natürlich giltst du als unschuldig, bis du verurteilt bist", aber andererseits und gleichzeitig an einen durch die Anklage indizierten Verdacht unmittelbar politisch-moralische Sanktionen zu knüpfen.

Natürlich lässt sich dagegen argumentieren. Indes, es gibt kaum Rechte, denen nicht durch ihre bedingungslose Gewährleistung gewisse Bedenken gegenüberstünden. Die Unschuldsvermutung aber sollte "abwägungsfest" sein. Wer an diesem zivilisatorischen Fortschritt festhalten will, der muss also notwendig manche "Nachteile" in Kauf nehmen. Ein unter Anklage stehender Kanzler mag eine Belastung für die Republik sein – aber das Mittel gegen diese Belastung ist in der parlamentarischen Demokratie nicht der sich moralisch überlegen dünkende Rücktrittsbefehl, sondern die Geltendmachung der politischen Verantwortlichkeit durch den Nationalrat. Wenn man dazu nicht die politische Kraft hat, dann bleibt der Appell an die Moral notwendig hohl.

Mangelnde Charaktereigenschaften

Gewiss sollten wir uns charakterlich einwandfreie Politiker herbeisehnen. Wir werden sie aber nicht bekommen. Wer den Abgang von Kurz und Co befördern will und hierfür vordergründig deren mangelnde Charaktereigenschaften oder ihre Unanständigkeit ins Treffen führt, weil er glaubt, dass diese Kritik den mangelnden politischen Zuspruch ersetzen könnte, der wird nicht weit kommen. Am Charakter der Mächtigen sind die Untertanen so wenig interessiert wie unsereins an den mit versteckter Kamera durchs Schlüsselloch eines Puffs aufgenommenen Bildern. Wer von den "einfachen Leuten" würde denn glauben, dass die "dort oben" dort wären, wo sie sind, wenn sie nicht gerade so wären, wie sie sind?

Dass es gerade die sich selbst "moralisch" dünkende Linke ist, die aus einer Anklageerhebung gegen einen Politiker das unzweifelhafte Erfordernis seines Rücktritts ableitet, ist bei der ganzen Sache wahrlich das Dümmste: Man muss ja nicht gleich bei Lassalle, Bebel oder Kautsky nachlesen, um sich über das Wesen der Justiz belehren zu lassen – aber ist etwa Rendi-Wagner wirklich unvorstellbar, dass einige Repräsentanten der insgesamt konservativen Justiz gegen jeden "linken" Amtsinhaber jederzeit eine Anklage basteln könnten? Sieht sie nicht, dass auch eine Anklage nicht mehr ist als das Resultat einiger Rechtsmeinungen, die doch immer auch falsch sein könnten? Die Sehnsucht vieler, ihre moralischen Ansprüche anderen als unabdingbare Verpflichtung aufzuerlegen, die sollte uns nicht beseelen. Im Rechtsstaat steht der für alle verbindliche Moralanspruch im Gesetz – was davon übrigbleibt, das nennt man Freiheit. Auch dann, wenn’s wehtut. (Alfred J. Noll, 18.5.2021)