Sind möglichst viele gegen eine Seuche wie Covid-19 immunisiert, schützen sie die Übrigen indirekt vor dieser Krankheit.

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Eine der vielen erfreulichen Pandemienachrichten dieser Woche kam aus Malta. Am Pfingstmontag verkündete der Gesundheitsminister des Inselstaates stolz, dass man als erstes EU-Land 70 Prozent der erwachsenen Bevölkerung mit mindestens einer Dosis gegen Covid-19 geimpft habe. "Damit hat Malta bereits Herdenimmunität erreicht", ergänzte Chris Fearne, der nicht nur maltesischer Gesundheitsminister ist, sondern auch noch ausgebildeter Mediziner und Vizepremier.

Der kleine EU-Staat hat rund 500.000 Einwohner und bereits mehr als 475.000 Impfstoffdosen verabreicht. Dass Malta zum Impf-Europameister werden konnte, hat auch mit einer klugen Einkaufspolitik zu tun: Während Österreich beim "Impfstoffbasar" (Copyright: Sebastian Kurz) der EU auf rund zehn Prozent der dem Land nach Bevölkerungsgröße zustehenden Impfstoffmenge von Biontech/Pfizer verzichtete, sicherte sich Malta fast 50 Prozent mehr. Inklusive der noch zusätzlichen Extradosen im Juni ließen sich damit bis Anfang Juli in Malta theoretisch alle Inselbewohner samt Kindern und Jugendlichen vollständig impfen.

Vielstrapazierter Begriff

Aber hat der Inselstaat tatsächlich jetzt schon Herdenimmunität erreicht? Was ist mit dem seit Beginn der Pandemie vielstrapazierten Begriff genau gemeint? Und wann wird es diesen Schutz durch eine immunisierte Mehrheit auch bei uns geben? Die Fragen sind komplizierter, als es auf den ersten Blick scheint. Das beginnt schon damit, dass nicht so ganz eindeutig ist, was unter dem Konzept der Herdenimmunität zu verstehen ist.

Die geläufigste, aber auch stark vereinfachende Definition geht davon aus, dass Herdenimmunität – die gleichbedeutend mit Herdenschutz ist – dann erreicht wird, wenn durch Infektionen und/oder Impfungen eine entscheidende Schwelle beim Immunisierungsgrad der Bevölkerung gegen eine Infektionskrankheit überschritten wurde.

Als Folge davon verlangsamt sich die Übertragung des Erregers rapide, bis die Krankheit gleichsam von selbst verschwindet. Die wenigen Nichtimmunisierten sind dann durch die Mehrheit geschützt.

Reichen 70 Prozent Erstgeimpfte?

Aber ist genau das schon in Malta der Fall? Auf der einen Seite deutet der Rückgang der Fallzahlen schon darauf hin: Die bewegen sich seit etwa zwei Wochen nämlich im einstelligen Bereich. Auf der anderen Seite sind sich Fachleute einig, dass 70 Prozent Erstgeimpfte in der erwachsenen Bevölkerung für die Herdenimmunität zu wenig sind. Tatsächlich zirkuliert das Virus nach wie vor und wird vermutlich durch Touristen im Laufe der nächsten Wochen und Monate immer wieder auf die Insel eingeschleppt werden.

Dass es sich neuerlich ausbreitet, ist im Sommer aufgrund der Saisonalität von Sars-CoV-2 unwahrscheinlich. Doch wie wird es dann in Herbst in Malta, in Österreich und im übrigen Europa aussehen? Kann das Virus, das im Moment in etlichen Regionen der Südhalbkugel wütet und insbesondere in Südamerika zu neuen Rekordinfektionszahlen führt, neuerlich zurückkehren? Oder werden uns die Impfungen davor bewahren?

Ab hier wird es mit den Prognosen schwierig. Denn es gibt für das Erreichen der echten Herdenimmunität zwei entscheidende Variablen, die nicht ganz leicht berechenbar sind: nämlich das Verhalten der Menschen und das Verhalten des Virus.

Virusvarianten

Beginnen wir mit dem Virus: Welche seiner Varianten sich in den nächsten Monaten bei uns durchsetzen, ist gleich aus zwei Gründen für die Frage der Herdenimmunität wichtig. Zum einen bestimmt die Infektiosität eines Virus die Schwelle des Herdenschutzes – konkreter formuliert: Je ansteckender ein Erreger ist, desto mehr Menschen müssen immunisiert sein. Und zum anderen können Virusvarianten die Schutzwirkung der Impfungen herabsetzen, was ebenfalls den Schwellenwert für die "echte" Herdenimmunität erhöht.

Was bedeutet das in Zahlen? Die Infektiosität eines Virus wird mit der sogenannten Basisreproduktionszahl R0 ("R-Null") gemessen. Dieser eher theoretische Wert gibt an, wie viele Personen eine infizierte Person ohne alle Vorsichtsmaßnahmen anstecken würde. Bei Masern liegt R0 etwa bei 15. Dementsprechend müssen 14 von 15 Personen immunisiert sein, um zur Herdenimmunität zu gelangen, also mehr als 93 Prozent.

Infektiosität erhöht Schwellenwert

Bei Sars-CoV-2 lag dieser Wert ursprünglich etwa bei etwas unter drei, hat sich aber durch die ansteckendere "britische" Variante B.1.1.7 erhöht. Dementsprechend gehen Expertinnen und Experten davon aus, dass es nicht mehr rund 60 Prozent Immunisierte in der Bevölkerung benötigt, wie man noch zu Beginn der Pandemie annahm, sondern deutlich mehr, also eher gegen 70 oder gar 80 Prozent. Sollte sich eine noch infektiösere Variante – wie etwa die "indische" Mutante B.1.617.2 – in Europa durchsetzen, würde das den Schwellenwert noch einmal erhöhen.

Ungünstig sind natürlich auch Varianten, die als sogenannte Fluchtmutanten den Impfschutz umgehen können: Denn auch ein reduzierter Infektionsschutz verlängert den Weg zum Herdenschutz. Die gute Nachricht: Insbesondere die mRNA-Impfstoffe schützen – im Übrigen besser als überstandene Infektionen – vor sämtlichen als besorgniserregend geltenden Varianten. Die nicht ganz so gute: Bei der "indischen" Variante B.1.617.2 etwa reduzierte sich der Infektionsschutz nach zwei Impfungen mit Comirnaty (dem Vakzin von Biontech/Pfizer) laut einer neuen, noch nicht fachbegutachteten Studie von rund 93 auf 88 Prozent, der durch Vaxzevria (Astra Zeneca) auf 60 Prozent.

Der Faktor Impfbereitschaft

Damit kommen wir zum menschlichen Verhalten, konkret zur Impfbereitschaft. Auch die lässt sich nicht wirklich exakt prognostizieren, sagt die Politikwissenschafterin Katharina T. Paul (Uni Wien), die seit vielen Jahren über sozialwissenschaftliche Fragen im Zusammenhang mit dem Impfen forscht.

Seit rund einem Jahr erhebt sie in einem Team der Uni Wien regelmäßig Daten über Einstellungen der Österreicherinnen und Österreicher zu verschiedenen Impffragen. Die jüngsten Umfragen zeigen aber einen eindeutigen Trend, sagt Paul: "Wir sehen, dass seit Jahresbeginn und der Zulassung der ersten Covid-19-Impfstoffe die Impfbereitschaft der Österreicher kontinuierlich ansteigt."

Grafik: Eberl et al., Vienna Center for Electoral Research, Universität Wien

Bei der letzten Umfrage waren es nur mehr 19 Prozent, die auf die Aussage "Ich werde mich ehemöglichst impfen lassen" mit starker Ablehnung reagierten. Die aktuellen österreichischen Impfstatistiken weisen ebenfalls in Richtung 80 Prozent: Von den 75- bis 84-Jährigen sind in Österreich bereits über 78 Prozent erstgeimpft, von den 65- bis 74-Jährigen über 74 Prozent. Bei den Personen ab 85 bewegen sich die Zahlen allerdings nur mehr ganz langsam nach oben – aktuell sind es nur rund 72 Prozent.

Unklar ist zudem noch, wie die Impfbereitschaft bei den Jugendlichen aussehen wird. Hier gehen zudem auch die Expertenmeinungen hinsichtlich der Risiko-Nutzen-Frage auseinander. Und offen ist auch, wie sehr die Immunität durch Impfungen und/oder Infektionen im Herbst und Winter zurückgeht und wie hoch die Bereitschaft zu Auffrischungsimpfungen sein wird. In allen Fällen könnte der grüne Pass eine wichtige Rolle spielen, so Paul, der eine Form von "Nudging" darstelle, also einen mehr oder weniger sanften Anreiz bietet, sein Verhalten zu ändern.

Vorschau auf die Wintersaison

Was bedeutet das alles für die angestrebte Herdenimmunität und die nächste Wintersaison? Erste Modellrechnungen bereits im Jänner zeigten, dass auch bei einer erwarteten Impfquote von 70 Prozent der Erwachsenen ein vollständiger Herdenschutz gegen Sars-CoV-2 und damit ein Eliminieren des Virus so bald nicht zu haben sein werden. Der Eindruck, dass die Pandemie in den nächsten Wochen überwunden sein könnte, wie womöglich viele angesichts des Öffnungsenthusiasmus nun meinen, dürfte also leider trügen.

Zu diesem Schluss kommt auch ein internationales Forscherteam in einer neuen, noch nicht fachbegutachteten Studie, an der auch der Wiener Gesundheitsökonom Thomas Czypionka (Institut für Höhere Studien) mitschrieb. Die Expertinnen und Experten stellten dabei Modellrechnungen an, wie sich der grüne Pass in Europa auf das weitere Infektionsgeschehen auswirken wird. Ihre Haupterkenntnis: Selbst bei günstigen Szenarien werden wir uns im November oder Dezember wieder auf eine Covid-19-Welle einstellen müssen, "die aber deutlich kleiner ausfallen wird", wie Czypionka ergänzt.

Gefahr einer stärkeren Grippewelle

Er gibt zugleich aber auch zu bedenken, dass umgekehrt im Winter eine stärkere Grippewelle zu befürchten ist, die im vergangenen Winter wegen der Maßnahmen völlig ausgeblieben ist. Und ohne alle Einschränkungen könnten beide Infektionskrankheiten zusammen gegen Jahresende wieder zu einer möglichen Überlastung auf den Intensivstationen führen. Aus diesem Grund sei es auch sinnvoll, jetzt nicht von einem Ende der Maßnahmen gegen Covid-19 zu sprechen, sondern nur von einem vorläufigen Aussetzen.

Den Sommer wird uns Sars-CoV-2 also vermutlich nicht vermiesen können, egal ob in Österreich oder auf Malta. Herdenimmunität und ein Ende von Covid-19, so steht zu befürchten, werden wir bis zum Herbst aber weder da noch dort erreicht haben. (Klaus Taschwer, 29.5.2021)