Bewegen sich durch den Kosmos der Zeit: Tänzerinnen und Tänzer der Compagnie Damaged Goods in "Cascade" im Volkstheater

Impulstanz / Martin Argyroglo

Dichter Nebel auf der Bühne des Volkstheaters, sehr langsam wird das Licht schwächer, die Musik verweht – und mit einem Schlag wird es finster. Durch die Stille vor dem Aufrauschen des Beifalls dringt aus dem Zuschauerraum laut, erleichtert und empört eine Männerstimme: "Na endlich!" Dieser geniale Moment zeigte: Hier hat jemand mitgelebt, mitgelitten und absolut verstanden, worum es geht. Denn das große Thema in dem Tanzstück Cascade von Meg Stuart ist tatsächlich die Zeit.

Der Ruf aus tiefstem Herzen war auch eine schöne Bestätigung für die in Berlin arbeitende amerikanische Choreografin, die im Publikum saß und von dort die Uraufführung des Resultats ihrer sich über Monate verteilt habenden Arbeit verfolgte. Pandemiebedingt hatte die Premiere immer wieder verschoben werden müssen. Auch das war ein Spiel der Zeit, die man nicht so einfach "vertreiben" kann, wenn einem ihre Dauer unangenehm ist.

Auf Kohlen sitzen

Eine der intensivsten Erfahrungen im Theater – gleich nach dem tiefen Genuss des Erlebten – ist das Sitzen wie auf Kohlen. In einer lang und länger zu werden scheinenden Weile kann eine kathartische Herausforderung liegen. Tatsächlich hat Stuart Passagen in ihr Stück eingebaut, die sich ziehen – aber dann auch wieder solche, die das Zeiterlebnis für die Zuschauer raffen, stauchen oder ins Stolpern bringen.

Erhellend wirkt das Bühnenbild des Szenografen und Regisseurs Philippe Quesne. Ein großes Fotopanorama des sichtbaren Alls mit Sternen, Galaxien und sogar einem kosmischen Nebel bildet den Hintergrund und überzieht zwei überdimensionale Luftkissen, auf denen sieben Tänzerinnen und Tänzer kriechen, umhersteigen oder springen. Ergänzt wird dieses Bild durch eine steile Rampe, die Möglichkeiten des Aufstiegs und des Abrutschens in den Raum stellt.

Erfassen der Natur

Die kosmische Umwelt für die kleine Gruppe auf der Bühne wirkt wie ein Hinweis darauf, dass sowohl die Zeit als solche als auch das lebendige Zeitgefühl Hervorbringungen einer Natur sind, die ein unendliches bisserl größer ist als unser Planet. Was wir "Kultur" nennen, besteht aus gemeinsamen Versuchen, diese Natur und unsere Existenz darin irgendwie zu fassen. Kultur ist ein wertvolles, oft auch gefährliches Naturprodukt, das schon durch eine aus kosmischer Sicht unspektakuläre Klimaveränderung weggeschwemmt werden kann wie nichts.

Cascade erweist sich als eine künstlerische Reflexion über das Erleben von Zeit als Kulturphänomen und ist als solche großartig "unnatürlich" inszeniert von der ersten bis zur letzten Sekunde. Einmal wieselt das Grüppchen, von Brendan Doughertys dynamischer Perkussion gejagt, wie übergeschnappt umher, dann wieder liegt es darnieder. Zwischendurch sagt ein Performer einen ironisch banalen Text von Tim Etchells auf, werden Kostüme gewechselt, geraten alle ins Taumeln.

Kunsterlebnis

Eine der Eigenschaften, die seit drei Jahrzehnten die Größe der Choreografin Meg Stuart ausmacht, ist ihr Talent, das Publikum emotional ans Abgründige heranzuführen, ohne dabei pathetisch destruktiv zu werden. Auch in Cascade werden die das Stück bestimmenden Stoffe nicht erklärt, sondern als ästhetische Impulse über Tanz, Musik, Licht und Rauminszenierung ins Auditorium geschickt. Das kann schleichend geschehen, in trügerischer Heiterkeit ablaufen oder in heftigen Eruptionen herausplatzen.

Dementsprechend ist diese Arbeit kein Lehrstück über die Zeit, sondern eine Himmel- und Höllenfahrt durch Gefühlsspektren und durch kulturelle Versatzstücke wie Zeichenmuster und Anspielungen auf Rituale. Cascade dient sich nicht als Propaganda an wie zurzeit viele andere Performances, sondern als Kunsterlebnis mit aller Widersprüchlichkeit, wie sie eben die Natur laufend herstellt.

Daher wirkt der hörbar erlöste Ruf "Na endlich!" am Ende beinahe passender als der so reichliche wie verdiente Applaus danach. Denn in den Kaskaden der Zeit ist ja alles – endlich. (Helmut Ploebst, 19.7.2021)