Die radikalislamischen Taliban erobern Afghanistan zurück.

Foto: AFP

Die Bilder, die uns seit Tagen aus Afghanistan erreichen, erscheinen wie aus der Zeit gefallen. Während die am besten ausgerüstete Armee der Welt ihre Soldaten in ihren futuristisch anmutenden Kampfmonturen des 21. Jahrhundert dazu einsetzt, Menschen aus Kabul auszufliegen, stehen vor den Toren der Hauptstadt die Taliban. "Folkloristisch" in ihren paschtunischen Gewändern und Kopfbedeckungen und Bärten sehen sie allerdings nur für Augen von außen aus – optisch stellen sie einfach das dar, was ihrer Ansicht nach die richtige Ordnung für Afghanistan verkörpert. Egal welches Jahrhundert.

In der katarischen Hauptstadt Doha wurde zwischen den Delegationen der Taliban und der USA nur mehr die Art der Übergabe verhandelt. Ausländer dürfen demnach abziehen. Ob die Zusagen halten, dass die Zivilbevölkerung geschont wird, bleibt zu sehen. Das wird auch zeigen, wie sehr die Taliban-Führung ihre Leute im Griff hat.

Das Szenario, dass die Taliban just am 11. September 2021 – dem 20. Jahrestag der Anschläge von Al-Kaida in New York und in Washington – in Kabul einmarschieren wollen, war eher eine westliche Projektion. Es geht den Taliban nicht um die USA, sondern um Afghanistan. Sie verstehen jedoch inzwischen so viel von Symbolpolitik, dass sie die westlichen Erwartungen durch ihre Inszenierungen teilweise erfüllen mögen. Das konnte auch der "Islamische Staat" gut.

"Islamisches Emirat" absichern

Aber die Priorität der Taliban ist eine andere. Dass sie überhaupt mit den USA reden, dass sie Delegationen bis nach China entsenden, zeigt, dass sie ihr "Islamisches Emirat" absichern wollen. Das erste hat nur fünf Jahre (1996–2001) überdauert und ist dem internationalen Jihadismus, dem Kampf von Al-Kaida gegen die USA, zum Opfer gefallen. Im Gegensatz zu dem IS haben die Taliban schon einen Staat; und im Gegensatz zu Al-Kaida geht es ihnen nicht um Internationalismus, sondern um ein national-islamisches Projekt.

Von der Eroberung der ersten Provinzhauptstadt am 5. August bis zur "friedlichen" Machtübergabe in Kabul hat es neun Tage gedauert. Am Samstag hielt Präsident Ashraf Ghani noch eine Rede, die seine Abgehobenheit von der Realität – die er sich allerdings mit US-Präsident Joe Biden teilt – gut illustrierte: Die Priorität sei die Konsolidierung der Sicherheits- und Verteidigungskräfte. Da war längst das Stadium erreicht, dass große Städte praktisch kampflos fielen. Es sah am Sonntag nicht so aus, als ob die afghanische Armee in Kabul noch zum Einsatz kommen würde.

Schwierigkeiten und Defekte

Es gibt keine Worte für die Tragödie, die die Afghanen und Afghaninnen betrifft, die auf eine Republik mit demokratischen Institutionen – mit allen Schwierigkeiten und Defekten – gesetzt haben. Die Auswirkungen werden allerdings über Afghanistan hinausgehen, und da auch wiederum nicht nur durch die vielen Menschen, die Afghanistan, gleich wie und wohin, verlassen wollen.

Die meisten von ihnen werden trotz aller Ankündigungen aus dem Ausland in ihrem Elend bleiben, in Afghanistan oder in der Nachbarschaft. Wie die USA und die Nato sie unwissentlich – durch Fehleinschätzung – oder wissentlich in diese Lage gebracht haben, ist Wasser auf den Mühlen aller islamistischen Bewegungen. Schon der Abzug der Sowjets 1989 war eine Inspiration. Der Abzug 2021 ist es noch mehr, haben doch USA und Co bei ihrem Einzug 2001 die Wörter Freiheit und Menschenrechte im Mund geführt. (Gudrun Harrer, 15.8.2021)