Nichts als Vorwürfe: Johannes (Nick Romeo Reimann) und Käthe (Anna Rieser) leben kein junges Glück. Beide stellen sich ihr Leben anders vor.

Foto: Nikolaus Ostermann / Volkstheater

Es ist unheimlich laut im Hause Vockerat. Eigentlich ist es idyllisch in einem Garten am See außerhalb von Berlin gelegen. Aber der bankrotte Malerfreund Braun brüllt vom Bühnenrand herein, dass Gott tot ist. Das hypochondrische Muttersöhnchen Johannes Vockerat schreit mit seiner Frau Käthe und seiner Mutter. Die Mutter (Anke Zillich) kreischt, wenn sie das Geschirr mit der Mayonnaise fallen lässt – Gott sei Dank serviert sie später nur mehr mit dem Servierwagen. Gelegenheiten zum Schreien findet sie allerdings noch genug, etwa wenn die Zürcher Studentin Anna als exzentrischer Gast auftaucht: Dann ruft Mutter Vockerat der gelangweilt Dreinschauenden Gesprächsversuche zu, als wäre sie begriffsstutzig. Anna (Gitte Reppin) bringt die erstickende Ordnung im Haus, wo Käthe einen Sohn geboren hat und damit nicht glücklich ist, gehörig durcheinander.

Ein junges Ehe- und Elternpaar, das von den ihm übergestülpten Rollenbildern von Mutterschaft und tatkräftigem Karrierestreben nicht erfüllt ist, bildet die Ausgangslage in Gerhart Hauptmanns Stück Einsame Menschen. Mit 27 Jahren hat er 1890 diese Suche nach dem richtigen Leben geschrieben. Dass es jenes im Falschen nicht gibt, wusste er schon vor Adorno. Den Figuren wird ihr diffuses Unwohlsein im Wiener Volkstheater nach und nach klarer. Die Anspannung und Traurigkeit, die Käthe (Anna Rieser hält ihr neugeborenes Bündel starr, kalt, ohne Lächeln) und Johannes (Nick Romeo Reimann gibt ihn angespannt, zusammengesunken und nervös) vom ersten Moment an als Malträtierte zeichnen, artikulieren sich im Verlauf zweier Stunden immer präziser.

Feminismus wagen

Denn Käthe ("Ich bin schon 22, und es geht abwärts") ist begeistert von Annas Emanzipiertheit. Eine Familie ohne Kind sei weder halb noch ganz, hat ihr die Schwiegermutter eingeschärft und betet sie in unglücklichen Stunden zu Gott. Anna aber pflanzt Käthe feministische Ideen ein, und Johannes verliebt sich in Annas Sinn fürs Philosophische, dem auch er nachhängt, statt auf eine Karriere hinzuarbeiten.

Volkstheater-Hausherr Kay Voges inszeniert auf einer bis auf Annas flatterndes gelbes Kleid ganz in schwarz-weiß gehaltenen Bühne, die von zwei riesigen Händen (die stark an die Kulissen der Bregenzer Carmen von 2017 erinnern) flankiert wird. Vielleicht stehen sie für Aggression, fehlenden Anpack, bittendes Flehen. Sinnstiftend werden sie für den Abend aber nicht; ebenso wenig wie ein paar eingespielte Comic-Sounds (u. a. wird eine Biene zertreten), die aber nicht zur übrigen Schwere passen wollen. Generell zielt der Ton leider oft daneben.

Wohl soll das Donnern der Stimmen das Scheppern der Verhältnisse deutlich machen. Aber erst in den Szenen, in denen Voges und Co-Regisseur Jan Friedrich das Ensemble nicht zum Schreien zwingen (es lässt nach 20 Minuten nach), gelingen den Darstellern kraftvolle Momente, in denen man statt der Suche nach Regieeinfällen die Nöte dieser Existenzen spürt. Etwa in einem Disput über Geld, ist der Gemahl doch gänzlich unpraktisch veranlagt. Als Käthe ihm einen Brief des Bankberaters vorliest, wirft er ihr Kleingeistigkeit vor. Ihm geht statt Lebenshaltungskosten neuerdings ein polyamores Familienmodell mit Anna durch den Kopf.

Grundsatzdebatten

Hauptmann ficht an seinen Figuren mehrere Grundsatzdebatten aus. Neben den Lebensmöglichkeiten für eine junge Frau, die sich von ihrem Umfeld kleingemacht fühlt, und männlichem Berufserfolg auch eine zum Wert der Kunst. Maler Braun (Claudio Gatzke) malt nicht, sondern verzweifelt. Ist Kunst nicht Luxus, wo es Aktivismus bräuchte?

Die große Revolution bleibt aus. Allenfalls werden ein paar Stühle umgeworfen, ehe Vater Vockerat (Stefan Suske) zum Abendessen Schinken mitbringt.

Am Ende steht Käthe so verloren auf der nebelwabernden Bühne wie zum Anfang des Abends. Aber ihr Kleid (Kostüme: Vanessa Rust) ist nun schwarz, und sie weiß genauer, warum sie dieses Leben nicht will. Dafür gab es nur mit Abstrichen verdienten, aber anhaltenden Applaus. (Michael Wurmitzer, 30.9.2021)