Die Corona-Krise stellt die Widerstandsfähigkeit der Märkte auf den Prüfstand. Diane Coyle, Professorin für öffentliche Politik an der Universität von Cambridge, sieht Parallelen zwischen den heutigen Versorgungsschocks und den Finanzschocks von 2008.

Der Hafen von Savannah, Georgia. Allein dort stauen sich 80.000 Container, 20 Schiffe, die ihre Fracht entladen wollen, ankern vor der Küste. Denn auch in den Vereinigten Staaten mangelt es an Lkw-Fahrerinnen und -Fahrern, um die Fracht weiterzutransportieren.
Foto: Imago Images / Paul Hennessy

In der Zeit vor der globalen Finanzkrise 2008 warnten einige vorausschauende Stimmen vor einer potenziell katastrophalen systemischen Instabilität. In einer berühmten Rede aus dem Jahr 2005 warnte der indisch-amerikanische Ökonom Raghuram G. Rajan ausdrücklich davor, dass das Finanzsystem zwar aufgrund struktureller und technologischer Veränderungen theoretisch eine bessere Risikostreuung als je zuvor biete, in der Praxis aber möglicherweise eine Risikokonzentration bewirke. Damals wurde Rajan verspottet; der ehemalige US-Finanzminister Larry Summers war nicht der Einzige, der ihn für einen "Ludditen" hielt.

An diese Episode muss ich denken, wenn ich sehe, wie überall auf der Welt Engpässe zutage treten. Die Märkte für Erdgas, Spielzeug, montagefertige Möbel, iPhones, Computerchips und vieles mehr sind betroffen. Werden sich diese Versorgungsschocks nur als eine vorübergehende Störung erweisen, während sich die Weltwirtschaft von den Auswirkungen der Covid-19-Pandemie erholt? Oder sind wir stattdessen Zeugen eines Zusammenbruchs des globalen Produktionssystems? Und was wäre im letzteren Fall das Äquivalent zu den Interventionen der führenden Zentralbanken zur Verhinderung eines weltweiten Finanzkollapses im Jahr 2008 in der Lieferkette?

Frappierende Parallelen

Die Parallelen zwischen den heutigen Versorgungsschocks und den Finanzschocks von 2008 sind frappierend. Vor jeder Krise war die vorherrschende Annahme, dass dezentralisierte Märkte eine angemessene Widerstandsfähigkeit bieten würden, sei es durch die Streuung finanzieller Risiken oder die Sicherstellung einer Vielzahl alternativer Versorgungsmöglichkeiten.

Im Energiesektor zum Beispiel hat es eine stetige Verlagerung weg von der nationalen Selbstversorgung hin zur Abhängigkeit von den globalen Märkten gegeben. Die Europäische Union begann 2008 mit der "Liberalisierung", die einen neuen Wettbewerb bei Gas und Strom auf einem EU-weiten Markt ermöglichen sollte. Obwohl einige zuvor Bedenken hinsichtlich der Auswirkungen auf die Versorgungssicherheit geäußert hatten, trieben die politischen Entscheidungsträger die Gesetzgebung voran, um die Energieimporte der europäischen Volkswirtschaften den globalen Märkten anzuvertrauen.

Offenkundige Schwächen

Die meisten Analysten – und politischen Entscheidungsträger – haben jedoch nicht vorausgesehen, dass sich die globalen Märkte für Gas und viele andere Rohstoffe als Engpässe oder Gatekeeper erweisen würden. Die vermeintliche Diversifizierung des Angebots infolge der Liberalisierung erscheint häufig illusorisch. Bei vielen Produkten, darunter Halbleiter oder CO2 (ein Nebenprodukt von Düngemitteln) für die Lebensmittelverarbeitung, hat sich das Angebot stärker konzentriert. Und die Aufspaltung der globalen Produktionsketten in immer stärker spezialisierte Glieder über mehrere Jahrzehnte hinweg hat zu unerwartet engen Korrelationen zwischen Versorgungsschocks in verschiedenen Branchen geführt, wie bei Düngemitteln und Lebensmitteln oder Halbleitern und Autos.

Darüber hinaus wirken sich einige Engpässe – zum Beispiel bei Lkw-Fahrern und Schiffscontainern oder bei Benzin im Vereinigten Königreich – direkt auf die Logistik aus, die die Glieder der Lieferketten miteinander verbindet. Infolgedessen haben sich die Schwachstellen rasch gegenseitig verstärkt und intensiviert. Das hochspezialisierte Just-in-Time-Konzept des globalen Produktionssystems hat erhebliche Vorteile gebracht, aber seine Schwächen sind jetzt offenkundig größer.

Was tun?

Welche Gedanken sollten sich die politischen Entscheidungsträger also über diese mangelnde Belastbarkeit des Systems machen, und was kann dagegen getan werden? Benjamin Golub von der Northwestern University hat gezeigt, dass die Warteschlangentheorie Aufschluss darüber gibt, wie eine kleine Änderung in einem gut funktionierenden System, wie die Reduzierung von zwei Supermarktkassen auf eine, zu einem enormen Anstieg der Wartezeiten führen kann. Umgekehrt kann ein System mit ein wenig Spielraum sehr belastbar sein.

Ebenso zeigt das klassische Spinnennetzmodell, wie Zeitverzögerungen die Märkte destabilisieren und große Schwankungen bei Angebot und Nachfrage auslösen können. Reagiert die Nachfrage weniger stark als das Angebot auf Preissignale und erweisen sich die Erwartungen über die Zukunft als falsch, dann führt eine Verzögerung bei den Reaktionen der Anbieter zu Volatilität. Das El-Farol-Bar-Problem des britischen Ökonomen W. Brian Arthur führt zu einem ähnlich instabilen Ergebnis.

"Selbst nach 30 Jahren Globalisierung gibt es erstaunlich wenig detaillierte, öffentlich zugängliche Informationen über die Produktströme in globalen Lieferketten."

Um das aktuelle Knappheitsproblem zu verstehen, gibt es also viele Funktionsmodelle. Die dringende Herausforderung besteht darin, die Stabilität wiederherzustellen und die Knappheit zu lindern, damit die Menschen in der Weihnachtszeit nicht ohne Spielzeug, Truthähne oder Benzin dastehen.

Oberste Priorität haben bessere Daten und bessere Geschäftsanalytik in der Verwaltung. Selbst nach 30 Jahren Globalisierung gibt es erstaunlich wenig detaillierte, öffentlich zugängliche Informationen über die Produktströme in globalen Lieferketten. Die Ministerien müssen wieder zu einem ingenieurbasierten Branchenwissen kommen, wie es früher üblich war, als die Industriepolitik noch als Kernaufgabe der Regierung galt.

Puffer einbauen

Gegenwärtig sind dezentralisierte Märkte und Preissignale jedoch das Problem und nicht die Lösung. Die Regierungen werden eingreifen müssen – sei es durch den Einsatz von Soldaten, die Tankwagen fahren oder durch Produktionssubventionen –, um einen Teil der Engpässe abzumildern.

Wenn die unmittelbaren Versorgungsprobleme abklingen, müssen Unternehmen und politische Entscheidungsträger überlegen, welche Art von Versicherung oder Puffer sie längerfristig in das Produktionssystem einbauen sollten. So wie die Banken nach 2008 ihre Eigenkapitalpuffer erhöhen mussten, müssen wir jetzt vielleicht von der Just-in-Time-Produktion abrücken und die Produktivität angesichts der Risiken in der Lieferkette neu definieren. (Diane Coyle, Übersetzung: Andreas Hubig, Copyright: Project Syndicate, 26.10.2021)