Ausstellungen mit 100 Prozent Künstlerinnen müssen nicht immer umjubelt werden, findet Angela Stief.
Foto: Sandro E. E. Zanzinger

Museen zeigen "Women-only-Shows", vergessene Künstlerinnen werden wiederentdeckt und Sammlungen möglichst divers präsentiert. Inwiefern solche Maßnahmen den Kunstkanon nachträglich korrigieren können und welche Kritik es daran gibt, erklärt die Chefkuratorin und neue Direktorin der Albertina modern, Angela Stief.

STANDARD: Das Interesse an Kunst von Frauen scheint größer denn je. Steht das Geschlecht dabei manchmal vor der Qualität der Kunst?

Stief: Ich finde es unglaublich wichtig, dass historisches Unrecht im Bezug auf Künstlerinnen, das strukturell lange Zeit verankert war, aufgearbeitet wird. In den letzten Jahrzehnten wurden Künstlerinnen wiederentdeckt und ihre Werke in großen Museen und Galerien ausgestellt. Das halte ich für unverzichtbar. Natürlich gibt es in den letzten Jahren einen Hype um Ausstellungen mit Kunst von Frauen. Dass manche dann nur aufgrund der Tatsache, dass da eben Künstlerinnen dabei sind, hochgejubelt werden, finde ich zu hinterfragen. Mir geht es immer um die Qualität der Kunst. Das muss im Vordergrund stehen und nicht irgendeine Quote oder die Erfüllung aktueller Hypes.

STANDARD: Besteht die Gefahr, dass sich Museen nur mit Kunst von Frauen schmücken, um am Puls der Zeit zu sein oder als divers zu gelten?

Stief: Am Puls der Zeit zu sein ist ja nichts Schlechtes, und Diversität ist noch viel besser. Es geht um die Korrektur der Vergangenheit und die Revision der Geschichte. Es ist wichtig, dass der Kanon hinterfragt und neubeschrieben wird. Das sind interessante Bewegungen, die es vor zehn bis fünfzehn Jahren noch gar nicht gab. Ich hätte nie gedacht, dass dieser Hype noch einmal so groß wird. Es ist ein totales Aufleben, das natürlich im Zusammenhang mit einer Bewegung steht, die nicht nur den Feminismus und die Frauen in der Kunst betrifft, sondern auch in Verbindung mit einer Political Correctness zu sehen ist, die Klasse, Rasse und Gender thematisiert.

STANDARD: Gab es einen Auslöser für diesen Hype um Ausstellungen mit Kunst von Frauen?

Stief: Ich würde sagen, dass es viele kleine Mosaiksteine waren, die dazu geführt haben. Kuratoren und Kuratorinnen haben angefangen, bestimmte Strömungen vor allem des 20. Jahrhunderts wie den Surrealismus oder den abstrakten Expressionismus neu zu befragen. Es wurden Ausstellungen präsentiert, die ausschließlich Frauen aus diesen Kunstströmungen zeigten. Das waren sicher wichtige Meilensteine in der Reevaluierung von Künstlerinnen, die in vielen Fällen auch gar nicht mehr leben.

STANDARD: Sie haben bereits 2010 als Kuratorin an der Kunsthalle Wien die Schau "Power Up – Female Pop Art" konzipiert. Und in Vergessenheit geratene Künstlerinnen in den Fokus gerückt. Was hat sich seither getan?

Stief: Innerhalb eines halben Jahres sind mir durch Zufall drei Pop-affine Künstlerinnen aus den 1960er-Jahren aufgefallen, die ich kaum oder gar nicht kannte. Ich kam mir ein bisschen vor wie ein Goldgräber, bin da peu à peu auf wirklich herausragende Künstlerinnen gestoßen. Sie haben sich auch unterschieden von den männlichen Pop-Protagonisten, waren teilweise experimenteller, kritischer, provokanter und haben ihren weiblichen Blickwinkel in die Kunst eingebracht. Zeitgleich gab es eine thematisch ähnliche Ausstellung in den USA. Künstlerinnen aus Power Up wie Evelyne Axell und Kiki Kogelnik zählen heute zum Kanon der Pop-Kunst. Die bis dahin äußert hermetische Männer-Geschichte der Pop-Art konnte so ein wenig revidiert werden.

STANDARD: Wie stehen Sie zu "Women-only-Ausstellungen"?

Stief: Grundsätzlich kritisch. Einerseits finde ich Forderung nach Quote berechtigt, weil ich sie gerne als Kampfbegriff verstehen will, um diese unselige Jahrhunderte andauernde Ungerechtigkeit im Bezug auf das Schaffen von Künstlerinnen zu verändern. Solange keine Gleichberechtigung herrscht, muss auch mit der Quote gearbeitet werden. Andererseits tut man Künstlerinnen und der Kunst nichts Gutes, wenn Ausstellungen nur unter diesem Thema verhandelt werden. Dann kann es leicht passieren, dass eine Schau entsteht, die qualitativ minderwertig ist. Und der Ausschluss wird zementiert.

STANDARD: Die Tate Modern hat in ihrem diesjährigen Programm vorwiegend Künstlerinnen präsentiert, andere Museen bringen Werke von Männern ins Depot und tauschen sie gegen jene von Frauen. Kann der Kunst kanon durch solche Maßnahmen nachträglich korrigiert werden?

Stief: Ja, auf jeden Fall. Geschichte will ich nicht als starre Konstruktion, sondern lebendigen Prozess verstehen. Wir müssen Geschichte hinterfragen, aufarbeiten und neu bewerten – und herausragende Künstlerinnen suchen, finden und ausstellen. Es geht um die Schaffung von Sichtbarkeit.

STANDARD: Also ist es auch eine Strategie, in einer Sammlungspräsentation 50 Prozent Männer und 50 Prozent Frauen zu zeigen?

Stief: Das ist ein großes Problem, das Sammlungen überall auf der Welt betrifft. Es ist lange gesammelt worden, weshalb dort männliche Kunst dominiert. In den USA wird zum Teil auf sehr radikale Weise versucht, mittels des sogenannten "Deaccecssioning", bestehende Verhältnismäßigkeiten zu verändern: Da werden sehr wertvolle und wichtige Werke männlicher Künstler verkauft und dafür diverse Kunst erworben. Davon halte ich nicht viel, in Europa ist das so auch nicht möglich. Die Sammlungen werden sich verändern, da wird langsam korrigiert und ergänzt.

STANDARD: In der von Ihnen kuratierten Ausstellung "The 80s" zeigen Sie drei Gemälde der österreichischen Künstlerin Isolde Maria Joham. Warum kennt man ihr malerisches Werk auch in Österreich kaum?

Stief: Das ist eine super Frage, auf die es keine Antwort gibt, außer die der strukturellen Ungerechtigkeit. Wie konnte das Werk einer Künstlerin, das so spannend ist, so lange übersehen werden? Das ist krass. Hier hängt Joham neben Franz Gertsch oder Eric Fischl – und ihre Arbeit kann klar mithalten. Es ist tragisch, dass es so lange gedauert hat. Ein Schicksal, das sie mit vielen Künstlerinnen teilt.

STANDARD: In welche Richtung wird sich dieser Trend entwickeln?

Stief: Die Zukunft prognostizieren kann ich nicht. Ich glaube, Ausstellungen sollten nicht nur in einem starren System zusammengestellt werden, das im gleichen Ausmaß Klasse, Rasse, Gender berücksichtigt. Wo würde das hinführen? Wir haben es hier mit Kunst zu tun. Da geht es um Fragenstellen, Diskussionsprozesse und neue Antworten. Trotzdem sind solche politisch korrekten Forderungen wichtig. Es ist viel Unrecht passiert. Wir müssen unsere Herangehensweisen, Sehgewohnheiten ändern und unseren Blick auch anderen Kulturen gegenüber öffnen. Und man darf nicht vergessen, wenn sich Frauenbilder verändern, müssen sich auch Männerbilder ändern. Für mich geht es um integrative Prozesse, und dafür ist Kunst richtig und wichtig. Es gibt noch wahnsinnig viel zu tun. (Katharina Rustler, 7.11.2021)

Hier die Videoversion dieses StandART-Gesprächs.
DER STANDARD