Unabhängigkeit und Objektivität der Vorsitzführung sind zentrale Anliegen der neuen Verfahrensordnung für U-Ausschüsse, sagen Alexandra Schrefler-König und David Loretto, Expertin und Experte für die Verfahrensordnung parlamentarischer U-Ausschüsse im Büro der Zweiten Nationalratspräsidentin Doris Bures, im Gastkommentar.

Opposition und Grüne wollen einen U-Ausschuss zur Umfragen- und Inseratenaffäre einsetzen. Umstritten ist, wer den Vorsitz führen soll. Nationalratspräsident Wolfgang Sobotka von der ÖVP sieht sich in der Pflicht.
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Noch ist der ÖVP-Korruptions- U-Ausschuss nicht eingesetzt – schon ist eine Debatte aus dem Ibiza-Untersuchungsausschuss prolongiert: Wer führt den Vorsitz?

Dass der Nationalratspräsident, wie er kürzlich in einem Interview sagte, "gesetzlich verpflichtet" sei, den Vorsitz im U-Ausschuss zu übernehmen, wurde zwischenzeitlich medial auf Basis der Verfahrensordnung für U-Ausschüsse zutreffend widerlegt. Die Verpflichtung des Nationalratspräsidenten beschränkt sich darauf, über die Vorsitzführung und das Ausmaß seiner Stellvertretung zu entscheiden. Im Gegensatz zum allgemeinen Aufgabenbereich des Präsidenten nach dem Geschäftsordnungsgesetz fordert die Verfahrensordnung als Lex specialis auch keinerlei Vorliegen von Verhinderungsgründen. So weit, so klar.

"Ich bin gesetzlich verpflichtet, den Vorsitz des U-Ausschusses zu übernehmen."
Sobotka im "Kurier"

Von einer in Stein gemeißelten gesetzlichen Verpflichtung zur Vorsitzführung dürfte der Präsident bis vor kurzem auch selbst gar nicht ausgegangen sein. Erst vor wenigen Wochen ließ er über seinen Sprecher ausrichten, er habe sich noch nicht festgelegt. "Der Geschäftsordnungsausschuss wird über die Einsetzung beraten, und der Präsident wird über weitere Fragen zu gegebener Zeit entscheiden", hieß es da.

Infolgedessen sprachen sich vier von fünf Fraktionen gegen dessen Vorsitzführung aus. Eine Tatsache, die der Präsident durch seine nunmehrige Festlegung, die Vorsitzführung zu übernehmen, negiert. Rechtlich ist dies möglich. Die Entscheidung, den Vorsitz abzutreten, liegt in seinem Ermessen. Tatsächlich geht es in der aktuellen Vorsitzdebatte weniger um juristische Fragestellungen – diese werden vom Gesetz klar beantwortet und sind erprobt. Vielmehr geht es um die Frage der Handhabung der geltenden Regeln. Und diese hängt wiederum vom konkreten Amtsverständnis des Nationalratspräsidenten ab.

Notwendiger Konsens

Es ist Praxis, dass der stimmenstärksten Partei das Nominierungsrecht für den Nationalratspräsidenten zukommt. Ungeachtet der sich daraus ergebenden politischen Zuordnung der Person wird an die Ausübung dieses hohen Amtes – vergleichbar mit jenem des Bundespräsidenten – ein besonderer Sorgfaltsmaßstab abseits jeglicher Parteipolitik gelegt. Denn das Amt des Präsidenten dient nicht einzelnen Parteiinteressen, sondern dem Nationalrat, als dessen oberstes Organ er agiert. Dazu zählen vor allem die Wahrung der Würde, der Rechte und Aufgaben des Nationalrates.

Auch wenn bestimmte Entscheidungen – wie die Vorsitzfrage im U-Ausschuss – dem Präsidenten persönlich obliegen, spielt dennoch die tragende und zentrale Rolle im parlamentarischen Verfahren der Konsensgedanke. Dieser wird an den unterschiedlichsten Stellen des Geschäftsordnungsgesetzes deutlich, und auch in der Verfahrensordnung für U-Ausschüsse findet sich diese Leitlinie des Parlamentarismus ausdrücklich wieder: In allen Verfahrensfragen soll nach Möglichkeit das Einvernehmen der Fraktionen hergestellt werden. Faktum ist, dass sich vier von fünf Fraktionen des Parlaments gegen eine Vorsitzführung des amtierenden Präsidenten im U-Ausschuss aussprechen. Nicht zum ersten Mal.

Bemerkenswerte Kontinuität

Vor diesem Hintergrund bleibt das Ausmaß, in dem der Nationalratspräsident seine nunmehrige Einzelentscheidung vor den Grundgedanken des größtmöglichen Einvernehmens stellt, ein Novum bemerkenswerter Kontinuität.

In Zusammenhang mit der Frage des Amtsverständnisses ist auch zu berücksichtigen, dass Unabhängigkeit und Objektivität der Vorsitzführung ein zentrales Anliegen der neuen Verfahrensordnung für U-Ausschüsse darstellt. Ganz bewusst hat der Gesetzgeber den Vorsitz im U-Ausschuss mit dem Amt des vom Nationalrat mit Mehrheit gewählten Präsidenten beziehungsweise dem Nationalratspräsidium verbunden, zuallererst aufgrund der mit dem Amt verbundenen Distanz zu parteipolitischen Agenden. Und es wurde bewusst kein Richter zum Vorsitzenden des U-Ausschusses gemacht, als deutliches Zeichen für eine lebendige selbstbewusste Demokratie. Zugleich wurde – ergänzend zum bestehenden Verfahrensanwalt – die Position des Verfahrensrichters als juristischer Berater eingeführt sowie für bestimmte Rechtsfragen externe Streitschlichtungsstellen (Verfassungsgerichtshof, Bundesverwaltungsgericht, Volksanwaltschaft) vorgesehen.

Genau hinschauen

Das Amtsverständnis ist nicht zuletzt auch ausschlaggebend für die Frage, ob und inwieweit der U-Ausschuss die ihm verfassungsmäßig zustehende Kontrolltätigkeit entfalten kann. Im Zentrum der parlamentarischen Untersuchung steht – wie auch vom Verfassungsgerichtshof festgestellt – das Recht auf umfassende Selbstinformation des Parlaments. Dies hat die Pflicht der Abgeordneten zur Folge, überall dort genau hinzuschauen, wo Informationen vorhanden sein können, die zur Aufklärung der Vorgänge im Bereich der Bundesvollziehung geeignet sind. Was dabei zählt, sind ausschließlich die Inhalte – nicht deren Form oder der Übertragungskanal. Mit "Schlüssellochmentalität" hat das nichts zu tun, denn es geht nicht um die Begutachtung privater Lebenssachverhalte, sondern ausschließlich darum, das Handeln und die Verantwortung der Organe der Bundesvollziehung aufzuklären.

Wie Verfahrensregeln angewendet werden, ist letztlich eine Frage von Amtsverständnis und Verantwortungsbewusstsein. Eine diesbezügliche Bewertung obliegt in unserer Demokratie abschließend dem Souverän. Dass die eigentliche Sache von Formal- oder Personaldebatten überschattet wird, erscheint jedenfalls nie zielführend. Die Vorsitzregelung hat sich auch dank der äußerst flexiblen Vertretungsmöglichkeiten gut bewährt. Eine Weiterentwicklung des wichtigsten parlamentarischen Kontrollinstruments erscheint dagegen etwa im Bereich der unmittelbaren Öffentlichkeit, der Ausweitung der Kontrollmöglichkeiten der Volksvertretung auf (teil)privatisierte Bereiche des Staates, in denen Milliarden des Republiksvermögens verwaltet werden, sowie bei den Dokumentationsverpflichtungen der Organe der Vollziehung, überlegenswert. (Alexandra Schrefler-König, David Loretto, 18.11.2021)