Durch Korruptionsermittlungen unter Druck, brauchte der damalige Kanzler Sebastian Kurz dringend gute Nachrichten – wie ein "Ende der Pandemie für Geimpfte"

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Das System Politik hat ein grundlegendes Problem: Seine Währung ist die Popularität, doch politische Führung bedingt auch unbeliebte Entscheidungen. Was das in der Praxis bedeutet, lässt sich an der Corona-Notsituation ablesen, in die Österreich gerutscht ist. Die Brutalität dieser vierten Welle, die über das Land hereinbricht, hätte zu zwei Zeitpunkten verhindert oder zumindest deutlich abgeschwächt werden können: Im Sommer mit einer eindringlichen Impfkampagne, im Herbst mit deutlich strengeren Maßnahmen. Das ist aber nicht erfolgt, weil Sebastian Kurz und seine Volkspartei wegen weitreichender Korruptionsermittlungen nicht in der Lage waren, unpopuläre Entscheidungen zu treffen. Das zeigt rückblickend einmal mehr, warum Politiker, die mit massiven Vorwürfen konfrontiert sind, ihr Amt ruhen lassen sollten.

Die türkise "neue" ÖVP war ohnehin nie eine Partei, die versuchte, inhaltlich-intellektuell zu überzeugen. Das "Team Kurz" entwickelte sein politisches Programm schon im Projekt Ballhausplatz mit Blick darauf, was gut ankommt – und nicht darauf, was das Land braucht. Das war nur in manchen Bereichen zufällig deckungsgleich. Auch dann, als das Projekt Ballhausplatz tatsächlich mit der Kanzlerschaft abgeschlossen war, versuchte Kurz nie, über die Grenzen seines Wählerpotenzials hinaus zu wirken. Man wird sich an ihn nicht als Staatsmann erinnern, der überparteilich Respekt genoss.

Knietief in Korruptionsaffären

Auch in der Corona-Pandemie tat Kurz retrospektiv nur, was ihm Anhänger bringen könnte. Anfangs stießen die scharfen Maßnahmen auf viel Verständnis, in der ÖVP träumte man bereits von der absoluten Mehrheit. Später, als sich immer mehr Bürgerinnen und Bürger nach Freiheit von Lockdowns und Maskenpflicht sehnten, schob man den grünen Gesundheitsminister Rudolf Anschober nach dessen Fehlern als alleinigen Sündenbock vor. Zwei Mal versprach Kurz einen "Sommer wie damals", zwei Mal führte das in den Notstand. Nach der überstandenen dritten Welle trat Anschober im April 2021 zurück.

Diesen Sommer war jedoch etwas anders als im Jahr zuvor: Die ÖVP stand nun knietief in Korruptionsaffären, auch Kurz selbst war wegen des Verdachts auf Falschaussage Beschuldigter. Erstmals seit der Umfärbung von Schwarz in Türkis machte sich ein Rumoren bei den Landeshauptleuten bemerkbar. Gute Nachrichten waren dringend nötig, sie manifestierten sich im Spruch, die Pandemie sei "für Geimpfte vorbei". Doch Kurz holte ein, dass er wegen seiner spaltenden, konfrontativen Politik einen beträchtlichen Teil der Bevölkerung nicht erreichen konnte. Zu viele Österreicherinnen und Österreicher verweigerten die Corona-Impfung; teils auf Betreiben der FPÖ, deren Politik Kurz mit Türkis-Blau selbst Legitimität verliehen hatte.

Fehlerkultur

Als Expertinnen und Experten immer eindringlicher davor warnten, dass eine vierte Welle entstünde, kam es für Kurz ohnehin knüppeldick: Die Wirtschafts- und Korruptionsstaatsanwaltschaft durchsuchte Kanzleramt, ÖVP-Zentrale und Finanzministerium; sie verdächtigte ihn der Bestechlichkeit und Untreue. Das Ringen um seinen Rücktritt und die Aufregung über die Vorwürfe versperrte den Blick auf die Corona-Situation wochenlang. Danach war durch den türkisen Absturz in den Umfragen ohnehin nicht mit einer Kursänderung zu rechnen. Dafür hätte die ÖVP eingestehen müssen, dass ihr Parteiobmann fatal falsch gelegen und die Pandemie auch für Geimpfte alles andere als vorbei war.

Welche Lehren lassen sich daraus für die Zukunft ziehen? Zunächst ergibt es Sinn, dass Politiker in hochentwickelten Demokratien zurücktreten, wenn es gegen sie massive strafrechtliche Vorwürfe und klare Anzeichen für politisches Fehlverhalten gibt. Die Unschuldsvermutung ist essenziell, allerdings im System des Rechts angesiedelt, nicht in der Politik. Jeder hat das Recht, bis zu einem fairen Gerichtsprozess als unschuldig zu gelten; aber niemand hat das Recht, unter allen Umständen Bundeskanzler zu bleiben.

Rückblickend muss die Corona-Notlage aber auch eine eindringliche Warnung vor Populismus sein. Im politischen Alltag des Durchregierens und der Message Control ist es wohl nicht wichtig, Vertrauen über Parteigrenzen hinweg aufrecht zu erhalten. Aber in Notsituationen muss es auch möglich sein, jene große Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger inklusive Nichtwählern zu erreichen, die nicht für Türkis-Grün gestimmt haben. Doch wer sogar eine Pandemie parteipolitisch ausschlachtet, kann keine breite Allianz hinter sich versammeln. Ein Umdenken wäre zumindest Licht am Ende des Tunnels – damit uns in Zukunft ein "Herbst wie damals" erspart bleibt. (Fabian Schmid, 20.11.2021)