Hat alle Hände und Füße voll zu tun, seinem Freund zu helfen und sich zu einem Heiratsantrag zu entschließen: Lord Goring (Matthias Franz Stein).

Philine Hofmann

Wien – Zum Thema Politik und Moral empfiehlt es sich in Österreich, regelmäßig Neuinszenierungen anzufertigen. Material ist genug da. Trug der korrupte Staatssekretär Sir Robert Chiltern aus Oscar Wildes Der ideale Mann 2011 im Akademietheater noch eine Karl-Heinz-Grasser-Föhnfrisur, so hält die Politkomödie auch zehn Jahre und etliche Untersuchungsausschüsse später im Theater in der Josefstadt optisch nicht hinterm Berg. Sie hat auch gewisse Bonmots upgedatet: von "Schreddern" bis "Wer zahlt, schafft an".

Elfriede Jelinek entspinnt in ihrer deutschen Fassung (auf Basis der Übersetzung von Karin Rausch) eine in London angesiedelte Gesellschaftssatire über das europäische Projekt eines gewissen Hyper-Alpenkanals (man erinnere sich), bei dem sich divergierende Interessen in die Quere kommen. Die von Wien nach London angereiste, talentierte Mrs. Cheveley (Martina Stilp) erpresst Sir Chiltern (Michael Dangl) mit einem Beleg über seine korrupte Politvergangenheit und verlangt, er möge im Parlament dem höchst umstrittenen Kanal-Projekt nicht im Wege stehen.

Tempo und Temperament

Eigeninteressen und entsprechende Manipulationen steuern das politische Handeln – diese Praxis ist Diskussionskern der exzellenten Dialogkomödie mit Tempo und Temperament. Man sieht Fehl und Tadel, Schuld und Sühne der hier agierenden Personen schon von weitem, man beobachtet die Diskrepanz zwischen Soll und Ist in einem vorzüglichen Ping-Pong, bei dem innerer Schweinhund und offizielles Schwamm-drüber knifflige Duelle ergeben. Diesen komödiantischen Motor überträgt Regisseurin Alexandra Liedtke in eine puppenhafte Mechanik, in der die Figuren auf einer eiligen Drehbühne von Philip Rubner mit vielen verschachtelten Salonzimmerwänden oft puppenhaft in Erscheinung treten.

Figurinengleich klappen da gestreckte Oberkörper nach unten, büchsen Gesäße seitlich aus und drechseln sich schmale Taillen durch ebensolche Türen. Die körperbetonten Kostüme von Johanna Lakner thematisieren die korrumpierende Sexyness im Stück, ohne selbst sexistisch zu sein – das ist schon ein Kunststück. Zudem bleibt das Attraktiv-sein wie ja aus Gewohnheit oft üblich hier ganz und gar nicht den Frauen vorbehalten.

Doch nicht so heilig

Das Begehren aller wird abgebildet – finanzieller, politischer oder libidinöser Art. Das gipfelt zum Beispiel in einer formvollendeten Interaktion des unergründlichen und im physischen wie übertragenen Sinn äußerst dehnbaren Lord Goring (Matthias Franz Stein) mit seinem Diener sowie Gästen. Zudem legt er später mit der unsentimentalen Mabel (Katharina Klar) einen denkwürdigen Heiratsanträge hin.

Die Inszenierung parkt in den kleinsten Andeutungen gewichtigen Subtext: So nimmt die bis dahin gewissensreine und geradezu verhaltensheilige Mrs. Chiltern (Silvia Meisterle) am Ende doch flugs in einem schnellen Handgriff die Amtseidpapiere für ihren Mann in Empfang und findet also doch Gefallen an dem auf Betrug fußenden Geld und Erfolg ihrer Existenz. Dass sie zwischendurch It‘s am man‘s world jammern muss, gibt dem aufgeweckten Tapetentürenabend aber einen geschlechterpolitischen Dämpfer.

Das Publikum im vollbesetzten Theaterhaus war durchwegs hingerissen, und das ist nicht zuletzt szenischen Miniaturen zu danken, unter ihnen etwa Paul Matič als herrlich widerwilliger Diener Phipps, der in einer trockenen, geradezu lebend-toten Manier jeder Addams Family Ehre machen würde. (Margarete Affenzeller, 19.12.2021)