Immer wieder dieses weltfremde Luxusthema, das mit dem Sprachgebrauch echter Menschen nichts zu tun hat – muss das wirklich sein?

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"Oh mein Gott, jetzt kommt der wirklich mit so einem Text übers Gendern! Haben wir eigentlich keine anderen Probleme?" Ich weiß natürlich nicht, wie es Ihnen geht, aber ich vermute mal, ähnlich wie mir: Sie haben in dieser schier endlosen Masse an zäher Pandemiezeit mehr Probleme als genug. Widrigkeit türmt sich auf Widrigkeit, und kaum ist einmal Licht am Ende des Tunnels zu sehen, wälzt sich irgendeine neuerliche Katastrophe davor, die bei schwindenden Kräften aus dem Weg geräumt werden muss. Da bleibt kaum Energie, um sich mit etwas anderem zu befassen.

Andererseits haben die vergangenen zwei Jahre ja gerade gezeigt, dass unsere monothematische Verengung auf die Pandemie sie weder schneller löst, noch zur allgemeinen Beruhigung der Gemüter geeignet ist. Unserer Aufmerksamkeit wird von den ununterbrochenen Meldungen rund um Corona hin und her geschubst und verliert dabei zunehmend den Fokus. Also ja: Wir haben eigentlich andere Probleme. Auf dem vordringlichsten haben wir bis zur Erschöpfung herumgekaut, und es ist immer noch nichts Gescheites dabei herausgekommen. Momentan versuchen wir immer noch, es mehr oder weniger auszusitzen.

Immer? Stimmt nicht

Das klingt für mich nach einem sehr guten Zeitpunkt, um mal über etwas anderes zu reden. Über das Gendern zum Beispiel. Ich kann mir vorstellen, dass viele von Ihnen jetzt gequält aufstöhnen: Immer wieder dieses elitäre, weltfremde Luxusthema, das mit dem Sprachgebrauch echter Menschen nichts zu tun hat – muss das wirklich sein? Ich jedenfalls finde, dass das sehr gut sein kann. Nicht zuletzt, weil der Vorwurf des "Immer wieder" nicht stimmt. Ich schreibe diese Kolumne hier seit bald neun Jahren. Und während der ganzen Zeit habe ich nicht einmal mit Ihnen übers Gendern gesprochen. Für ein Thema, dass Feminist*innen angeblich ständig umtreibt und mit dem sie anhaltend die Allgemeinheit nerven, ist das doch ziemlich bemerkenswert.

Woher kommt also diese erschöpfte Gereiztheit? Reden wir nicht lange um den heißen Brei herum: Es ist die Gegenseite, die die Debatte um das Gendern immer wieder mit dem altbekannten rhetorischen Trick anschiebt, das Vertreten einer bestimmten Position geschehe so ubiquitär, lautstark und zahlreich, dass man nun aber wirklich mal argumentativ einschreiten müsse. Um das gleich vorwegzunehmen: Gegen das Gendern zu sein ist eine valide Position. Insbesondere, wenn man es so klug anstellt wie die Schriftstellerin Nele Pollatschek. Die weist als Gegenargument zum Gendern darauf hin, dass die gewollte sprachliche Differenzierung einer angestrebten Gleichbehandlung von Männern und Frauen im Weg steht.

Denkfaul

Auch wenn ich anderer Meinung bin und das generische Maskulinum eher als Vereinnahmung des Weiblichen definiere und nicht als sprachlichen Zufluchtsort vor geschlechtlicher Zwangsmarkierung, ist das zweifellos ein interessanter Punkt. Ganz im Gegensatz zu der sonst üblichen "Alle fordern andauernd das Gendern, jetzt braucht es aber wirklich mal einen Aufstand der Sprachanständigen"-Finte. Einer dieser Sprachanständigen ist der Philosoph Richard David Precht, der gerne darüber redet, für wie dumm er die Idee einer gendergerechten Sprache hält. "Sprache ist kulturelle Heimat von Menschen", sagt Precht und hat recht damit.

Allerdings bleibt er genau an diesem Punkt stehen und stellt damit ein Ausmaß an Denkfaulheit zur Schau, das ans Lächerliche grenzt. Dabei ist es eigentlich ganz einfach. Wenn Sprache kulturelle Heimat von Menschen ist und es Menschen gibt, die die Sprache durch das Gendern verändern wollen, dann kann das nur eines bedeuten: Sie fühlen sich in dieser Sprache heimatlos und versuchen sich über das Gendern sprachlich zu beheimaten. Weil sie sich in der Sprache nicht aufgehoben fühlen, machen sie Aufhebens um sie. Noch mehr Aufhebens scheinen allerdings diejenigen zu machen, die durch eine mögliche Modifikation der Sprache über das Gendern eine Entheimatung antizipieren. Die also einen Identifikationsverlust befürchten, während andere um Identifikation und Repräsentation kämpfen.

Muss bleiben, was war?

Ich kann Ihnen nicht sagen, ob Sternchen, Doppelpunkt, Unterstrich und Glottisschlag die Zukunft sind. Aber ich bin überzeugt davon, dass es sich lohnt, Menschen ein Angebot zu machen, die sich in Sprache beheimaten wollen. Ihnen mit Wohlwollen zu begegnen, anstatt so zu tun, als stünde ein bis an die Zähne bewaffnetes Gendersternchenräumkommando vor unserer Tür, um uns aus unserem weichen Sprachbettchen zu vertreiben, damit es sich anschließend selbst darin gemütlich machen kann.

Ich halte Heimat, auch sprachliche Heimat, für transformierbar und nicht für konservierungsbedürftig. Sprache in den Formaldehyd eines "Was war, muss bleiben" einzulegen ist nicht nur kleinlich, sondern schlichtweg feindselig gegenüber denen, die an dem Geruch zu ersticken drohen.

Das bedeutet nicht, dass Gendern die einzig richtige Option ist und Gegner*innen des Genderns zwangsläufig rückständig, fortschritts- oder gar menschenfeindlich sind. Es bedeutet, dass mit der Forderung nach oder der Bitte um das Gendern ein Anspruch formuliert wird, der es wert ist, erwogen zu werden. Der in unsere nicht nur sprachliche Mitte gehört. Der ein Recht auf Beheimatung hat. Wie auch immer dieses Recht gestaltet wird. (Nils Pickert, 3.1.2022)