Es galt und gilt, gegen Klischees zu kämpfen: "Wer gut aussieht, kann nicht gut sein. Mit diesem Vorurteil sah ich mich oft konfrontiert", sagt Sophie von Kessel im STANDARD-Gespräch.

Renate Neder

Mit einem Jahr Verzögerung ist Sophie von Kessel 2020 Direktor Martin Kušej, ihrem damaligen Lebensgefährten, vom Residenztheater ans Burgtheater gefolgt. Da hatten ihre Resi-Kollegen bereits eine Spielzeit im Haus am Ring hinter sich. Neu in der Stadt ist die Schauspielerin aber trotzdem nicht. Die Diplomatentochter hat in Hietzing schon ihre Volksschuljahre verbracht und damals beim allmorgendlichen Absingen der Nationalhymne viel Österreich inhaliert.

Später, in den 1990er-Jahren, studierte Sophie von Kessel neben der Schauspielkunst am Max-Reinhardt-Seminar auch das damals noch überschaubare Sortiment der Nöm-Produkte (Niederösterreich-Milch) in den Supermarktregalen. Sie wohnte mit Toilette am Gang – erklären braucht man dieser Frau Wien also nicht. Als hätten ihre Eltern sie gezielt auf das vazierende Dasein einer Schauspielerin vorbereitet, wurde die aus altem deutschen Adel Stammende in Mexiko-Stadt geboren (1968) und danach in Lateinamerika, den USA, Finnland, Deutschland und eben Österreich wohnhaft. Zur Matura ging’s immerhin in die Politmetropole Bonn.

Gutes Englisch

Wer in jungen Jahren weltweit schon so viel umziehen muss, für den oder die mag eine internationale Karriere nur mehr matten Glanz abwerfen. Selbst wenn von Kessel mit Charlton Heston, Alain Delon und John Malkovich gearbeitet hat und sie exzellentes Englisch spricht, Hollywood oder den Broadway hat sie nie angestrebt.

Ein Land, in dem Theater staatlich subventioniert werden, verlässt man nicht, sagte sie sich schon damals. Und das obwohl sie auch ein Jahr lang neben Oscar-Preisträgerin Viola Davis (The Suicide Squad) oder Michael Stuhlbarg (Call Me By Your Name) die renommierte Juilliard School in New York besucht hat. Der Spaß, sich den Gesetzen des amerikanischen Marktes auszusetzen, schien ihr nicht verlockend genug.

Ohne Markt geht es aber auch in Europa nicht. Es ist eine Gratwanderung: Während Sophie von Kessel als Studentin einerseits allabendlich um Restkarten für Burgtheater-Vorstellungen anstand – es war die Peymann-Ära und Ensemblemitglied Martin Schwab ihr Lehrer –, wurde sie in den 1990er-Jahren andernorts, im Fernsehen, zum Rising Star in der höchst erfolgreichen Herzschmerzserie Schloss Hohenstein auf ARD.

Nicht auf das Image der schönen jungen und zu errettenden Frau festgelegt zu werden, erforderte viel Aufwand – ebenso sich gegen das Erfüllen von Schönheitsbildern zu stemmen. "Wer gut aussieht, kann nicht gut sein. Mit diesem Vorurteil sah ich mich oft konfrontiert", sagt von Kessel im STANDARD-Gespräch. Dem widerspricht nicht, dass sie zwischendurch, 2008 und 2009, bei den Salzburger Festspielen die Buhlschaft gab, denn die Buhlschaft ist so etwas wie schauspielerische Staatsräson.

Die vielseitige Darstellerin, die brav in der Provinz, am Stadttheater Aachen, begonnen hat, dann zum Schauspiel Köln und später lange Jahre zum Ensemble der Münchner Kammerspiele unter Dieter Dorn gehörte, hat in Film und Fernsehen deshalb Figuren ohne optische Definierung gespielt: Polizistinnen, Professorinnen, Ärztinnen.

Viele Gäste

Eine solche spielt sie auch jetzt am Burgtheater. Der Brite Robert Icke, bekannt für seine umsichtigen Klassiker-Updates, hat Arthur Schnitzlers Antisemitismus-Drama Professor Bernhardi neu überschrieben und dabei das de facto rein männliche Figurenpersonal kräftig aufgelockert. Mit einem für hiesige Verhältnisse unüblich diversen Ensemble – und deshalb mit vielen Gästen – feiert Die Ärztin am 7. Jänner seine deutschsprachige Erstaufführung im Haus am Ring.

Das Stück kommt wie gerufen. Denn, so Sophie von Kessel, "die Bandbreite von Frauenfiguren, gerade im mittleren Alter, ist in der Theaterliteratur immer noch mager. Das ändert sich viel zu langsam." Das Burgtheater bemüht sich und hat in der letzten Spielzeit mit Lucy Kirkwoods historischem Gerichtsdrama Das Himmelszelt gegengesteuert. Hier spielt Sophie von Kessel jene flamboyante Hebamme, die sich für die zu Verurteilende einsetzt. "Man möchte am Ende des Tages eine komplexe Figur spielen, die ein Innenleben hat", so von Kessel.

Mit der Rolle von Dr. Ruth Wolff, die sich nach einer strittigen Entscheidung wachsender Anfeindung ausgesetzt sieht, hat sie Gelegenheit dazu. (Margarete Affenzeller, 4.1.2022)