Beherzter Hedonismus aus dem Jahre Schnee: Tango mit (von links nach rechts) Lisa Birke Balzer, Frieder Langenberger und Andri Schenardi in Graz.

Foto: Karelly/Lamprecht

Der American Dream heißt ausnahmslos alle willkommen: Jede Persönlichkeit besitzt das Recht, ohne Ansehen von Herkunft und Verdienst die soziale Stufenleiter zu erklimmen. Im Grazer Schauspiel hat man jetzt eine knapp hundert Jahre alte Fallstudie zur endgültigen Beweisführung herangezogen, F. Scott Fitzgeralds brillant lärmigen Roaring-Twenties-Roman Der große Gatsby (1925).

Doch noch ehe Regisseurin Claudia Bossard das Talmi von damals mit der Vulgarität der Epoche Trump vergleichen kann, führt sie zwei potenzielle Sozialaufsteiger symbolhaft vor. Der eine heißt Mickey Mouse: ein stiller Brüter, der am Beckenrand von Jay Gatsbys Swimmingpool reichlich abgeschlafft ausharrt. Der andere trägt Sombrero und winkt aufgekratzt ins Publikum: eine quietschlebendige Tex-Mex-Chilischote aus abwaschbarem Nylon.

In Fitzgerald-Amerika trägt eben jedermann die eigene Haut zu Markte. Bei wem es zur eigenen Haut wider Erwarten doch nicht gereicht hat, der hilft nach. Doch spätestens seit Trump scheint der US-amerikanische Sozialvertrag gekündigt: Die Abgehängten aus den Fly-over-Staaten stürmen Bundeseinrichtungen oder hängen ihr Herz an Fake-News-Erzähler. Im Schauspielhaus hingegen gelten, Gatsby sei Dank, noch die guten, alten Klassengegensätze. Nick (Frieder Langenberger), der beredte Yale-Schnösel mit besten Beziehungen zum Geldadel, teilt sich ein und dieselbe Telefonzelle mit dem Proleten im versifften Jogginganzug (Fredrik Jan Hofmann). Oder, besser gesagt: Wenn er erst einmal telefoniert, gibt er die Zelle nicht mehr her.

Auch sonst kann sich Bossards Fitzgerald-Betrachtung, bei aller Qualität des vorbildlich fidelen Ensembles, nicht recht entscheiden. Welches der vielen potenziellen Amerikas soll in Graz zur Anschauung gelangen? Gatsbys (Andri Schenardi) Märchenanwesen im "East Egg" der Emporkömmlinge ist ein nacktes Stahlgerüst mit abschüssiger Treppe (Ausstattung: Frank Holldack / Elisabeth Weiß).

Die Erosion der Ehe zwischen Daisy (Lisa Birke Balzer) und Tom (Nico Link) gleicht dem Götterzwist in einem Stil-Olymp. Hier sind die Hosen noch auf Kante gebügelt, die Tango-Schritte exakt vermessen. Macht das Abenteuer einmal Pause, rockt eine vierköpfige Damenkapelle ausgelassen, oder eine Clubbing-Verordnete zieht die Techno-Beats hoch.

Die Heilige Amanda

Gatsby, das Millionärswunder aus zwielichtigen Verhältnissen, möchte seine Jugendliebe Daisy zurückhaben. Dieser Absicht wegen fälscht er seine Vita, schmeißt er Partys. Im Schauspielhaus will zur Idee des dekadenten Selbstgenusses unter US-Vorzeichen keine recht nachvollziehbare Haltung aufkommen. Gewiss, Toms proletarische Vorstadtliebschaft Myrtle (herrlich vulgär: Katrija Lehmann) kreuzt in einem Fernsehstudio auf. Dort gibt sie – echt nur im dottergelben Kunststofffummel – die Heilige Amanda Gorman der Schmachthöfe. Oder ist es doch Kamala Harris?

Ein bisschen mehr Exzess, mehr irregeleiteten Glauben an die zerstörerische Macht der Illusionen hätte dieses Making A Great Gatsby schon propagieren dürfen. Nicht nur Donald Trump weiß schließlich: Mehr ist nicht nur besser als weniger. Mehr ist meistens mehr. (Ronald Pohl, 18.1.2022)