Die mentale Gesundheit der Schülerinnen und Schüler ist ein zentrales Anliegen des Streiks.

Foto: Elisa Tomaselli

In Wien streiken die Schülerinnen und Schüler mit Plakaten.

Foto: Elisa Tomaselli

Vereinzelt brettern Autos über die Herbststraße in Wien-Ottakring, ansonsten ist es um neun Uhr noch ruhig. Vor der HLA Kunst Mode Design sitzen zwanzig Schülerinnen auf den kalten Betonstiegen, zwei essen aus ihren Jausenboxen, drei andere halten ein Kartonschild mit der Aufschrift "Wir streiken" in die Höhe. Eigentlich hätte Schulsprecherin Olivia Morelli gerade Betriebswirtschaft. Dass ausgerechnet dieses Fach am Dienstag für den Warnstreik geopfert werde, sei aber Zufall: "Das ist bei uns nicht das Hassfach." In den anderen Fächern merke sie aber, dass ihnen viel Stoff fehle. "Viele haben auch Angst davor entwickelt, vor der Klasse zu reden", sagt Olivia.

Dass zwei Jahre Pandemie bei Schülerinnen Spuren hinterlassen haben, hat auch Klassenkollegin Hannah beobachtet: "Ich kenne niemanden in meinem Umfeld, dem es mental gutgeht." Da bräuchte es mehr Betreuung, sind sich beide einig. Dass der Druck auch bei der Matura rausmuss, wird Olivia eine halbe Stunde später auf dem Ottakringer Schuhmeierplatz vor 150 Schülerinnen sagen.

Nicht nur in Wien, in ganz Österreich verließen am Dienstag zahlreiche Schülerinnen und Schüler für eine Stunde die Klassenzimmer, um ihren Unmut über die aktuellen Maturavorgaben zu zeigen. Mehrere Schülerinitiativen fordern, dass Maturanten im Jahr 2022 die Wahl haben, ob sich ihr Maturazeugnis aus den Noten der letzten beiden Schuljahre zusammensetzt oder ob sie eine reguläre schriftliche Matura und eine freiwillige mündliche Matura machen. Der Maturajahrgang 2022 sei von der Pandemie am stärksten betroffen, begründen sie den Streik. Auch in den vergangenen beiden Jahren war die mündliche Matura wegen der Pandemie auf freiwilliger Basis. Wer nicht antreten wollte, bekam automatisch die Note der Abschlussklasse ins Maturazeugnis. Für 2022 gibt es zwar Erleichterungen, Bildungsminister Martin Polaschek (ÖVP) will aber an der verpflichtenden mündlichen Reifeprüfung festhalten.

Nicht für Matura gewappnet

Dass sich die Schülerinnen und Schüler Österreichs dafür nicht gewappnet sähen, komme nicht von ungefähr. "Internationale Studien – Österreich hat sie leider nicht – sprechen dafür, dass im Distance-Learning weniger gelernt wurde", sagt die Bildungspsychologin Barbara Schober von der Uni Wien. Daher solle man den Jugendlichen signalisieren, dass es eben kein normales Schuljahr war – und sich überlegen, wie das fair in der Gestaltung der Matura abgebildet werden könne.

In Salzburg griffen die Schüler indes zu schwererem Gerät. Mit einem Hockeyschläger schlug der Sprecher der Aktion kritischer SchülerInnen (AKS), Stjin Maas, auf eine Piñata in Form einer Schatztruhe mit der Aufschrift "mündliche Matura" und "VWA Präsentation" vor dem Borg Straßwalchen ein. Der Bildungsminister hat bisher keine Zuckerln an die Maturanten verteilt. Sollte Polaschek bis nächste Woche nicht reagieren, werde aus dem Warnstreik ab 26. Jänner ein richtiger Streik, kündigt Maas an. "Wir warnen den Minister: Reden Sie mit uns", fordert der Salzburger AHS-Landesschulsprecher, der in dieser Funktion nicht an den Streiks teilnehmen darf, da die Schülerunion die Streikaufforderung nicht teilt.

In Salzburg fordern die Schüler eine faire Matura für alle, sonst geht der Streik weiter.
Foto: Stefanie Ruep

Überhaupt startete der Warnstreik etwas holprig. Die für elf Uhr angesagte Pressekonferenz der AKS musste nach hinten verschoben werden. Laut Schülervertretern, weil die Bildungsdirektion sie untersagt habe und Medien nicht aufs Schulgelände lasse. Die Bildungsdirektion sieht das anders. Sie sei über den Inhalt des Medienbesuchs falsch informiert worden. "Im Schulrecht ist kein Streikrecht für Schüler vorgesehen", daher könne die Bildungsdirektion die Zusage zu einer Pressekonferenz nicht geben, erklärt die Sprecherin der Bildungsdirektion, Lucia Eder. Der Landesschulsprecher habe sich für die Fehlinformation entschuldigt, und es sei eine gute Lösung gefunden worden, sagt Eder.

Um 13 Uhr in einer Freistunde machten dann rund 50 Schülerinnen und Schüler vor dem Schulgelände mit Plakaten und Musik auf den Streik aufmerksam. "Die Abnormalität ist in den Schulen zur Normalität geworden", betont Maas. Es brauche eine generelle Maturareform, damit nicht mehr zwölf Schuljahre an einem Tag abgeprüft werden.

Auflauf in Ottakring

Zurück in Wien-Ottakring: Zwischen Fußballkäfigen und dem Gymnasium Schuhmeierplatz strömen Scharen von Schülerinnen mit FFP2-Masken auf den Platz. Mit dabei sind "dutzende AHS- und BMHS-Schüler und gewählte Schulvertreterinnen", sagt der AKS-Mitorganisator Johannes Hüttner, der selbst nicht mit diesem Zulauf gerechnet hätte.

Das Mikrofon wechselt im Minutentakt die Hände. "Wir können nicht etwas auf Papier bringen, was nicht vorhanden ist", ruft eine Maturantin, "die zusätzliche Stunde bei der Matura könnt ihr euch sonst wohin stecken!" Die Menge applaudiert und hebt Schilder wie "Nicht mit uns" oder "Unsere Psyche" in die Höhe. Der Nächste ist der stellvertretende Schulsprecher, dem seine Schule im Nacken sitzt. "Ich muss jetzt gehen, bevor ich Probleme mit dem Direktor kriege", sagt Ilia Pashaeinia. Lachen tönt über den Platz. Der sei nicht so überzeugt von der Aktion gewesen, sagt Ilia im Anschluss, "aber uns bleibt nichts anderes übrig, als zu streiken". Sein dringlichstes Anliegen: die freiwillige mündliche Matura und die psychische Gesundheit.

"Das ist einfach nur unfair. Da kann doch im Bildungsministerium keiner nachvollziehen, wie es uns geht."
Nela Uzelec, Maturantin

Solidarität mit Jungen gefordert

Auch in Oberösterreich versammelten sich unter anderem vor dem BRG Hamerling, dem BRG Solar City und der HTL Linz 1 Bau und Design Maturantinnen und Maturanten, um friedlich, aber lautstark ihre Bedenken zu äußern. Vor dem BRG Hamerling fanden sich rund 100 Schüler mit Plakaten mit Slogans wie "Polaschek, oh Polaschek – streich uns doch die Mündliche weg" oder "Wir sind hier, wir sind laut, weil man uns die Zukunft klaut" ein. "Es ist sehr schwer für viele von uns, weil die jetzige achte Klasse im vergangenen Jahr im Distance war. Wenn mich wer fragen würde: ‚Was hast du letztes Jahr schulisch so gemacht?‘ – ehrlich, ich könnte gar nicht antworten. Ich weiß gar nichts. Damit wird es auch für eine mündliche Matura schwer", erläutert die 17-jährige Nela Uzelec im STANDARD-Gespräch. Die Politik habe "über die Köpfe der Schüler hinweg" etwas entschieden. Uzelec: "Das ist einfach nur unfair. Da kann doch im Bildungsministerium keiner nachvollziehen, wie es uns geht. Es leiden so viele unter der Situation."

Man habe Solidarität den Älteren gegenüber gezeigt, setzt Klassenkollegin Denise Datscher nach. "Und dafür werden wir jetzt bestraft. Wir sind daheim gesessen und haben uns psychisch fertiggemacht. Der Druck vonseiten der Regierung auf uns Schüler war enorm. Uns steht daher bei der Matura jetzt auch eine Wahlfreiheit zu." (Markus Rohrhofer, Stefanie Ruep, Elisa Tomaselli, 19.1.2022)