Frank Castorf im Dickicht der Städte: "Westdeutsche Kommunen wie Köln würden heute dringend eine Anschubfinanzierung brauchen."

Foto: Heribert Corn

Die Arbeit am Landestheater Niederösterreich erinnere ihn "sehr positiv" an seine Zeit in dem DDR-Städtchen Anklam: Frank Castorf bringt heute, Samstag, in St. Pölten das in Versen dahinrollende Drama Schwarzes Meer zur Uraufführung (19.00). Autorin ist eine Ex-Lebensgefährtin, Mimin Irina Kastrinidis. Castorf, der zuletzt Jelinek und Handke an der Burg uraufführte, über die Angepasstheit vieler seiner Zeitgenossen.

STANDARD: Was muss ein Stück wie Elfriede Jelineks Lärm. Blindes Sehen. Blinde sehen! oder jetzt Irina Kastrinidis’ Schwarzes Meer mitbringen, um Sie zu interessieren?

Castorf: Mich hat bei Jelinek nicht so sehr die Bearbeitung der Odyssee interessiert. Odysseus bleibt viele Jahre bei Kirke; die Kameraden haben nur das Pech, in Schweine verwandelt zu werden.

STANDARD: Sie haben in Wien ein riesiges Schwein namens "Edmund" auf die Bühne gestellt.

Castorf: Weil ich an Chicago denken musste, an die Fleischindustrie, an Brechts Heilige Johanna der Schlachthöfe. Wie dort die Schweine für die Konservenindustrie zugerichtet werden: ein Industriezweig, der prosperiert wie kein anderer. Dagegen steht der Urtrieb des Wildschweins, Löcher in die Erde zu reißen. Wenn die Tiere in ihrer Todesangst auf den Zementflächen stehen, reißen sie sich die Schnauzen blutig. Ich bin Fleischesser; aber die Art, wie wir kulturell mit den Tieren umgehen, ist für mich verwirrend.

STANDARD: Der Text Schwarzes Meer von Schauspielerin Irina Kastrinidis enthält eine archaische Erinnerung an die Vertreibung der Griechen aus der Türkei von 1914 bis 1923.

Castorf: Die Griechenverfolgungen durch die Türken sind gut dokumentiert. Die Betroffenen wurden enteignet, vergewaltigt – all die Maßnahmen, die wir seit Abhaltung der Wannseekonferenz 1942 auch in unseren Breiten gut kennen. Das Osmanische Reich wurde von Vertretern der Entente einfach mit dem Lineal geteilt. Die neu hinzutretende jungtürkische Bewegung achtete auf die Wahrung ethnischer "Reinheit". Es gab anderthalb Millionen armenische Tote, anderthalb Millionen tote orthodoxe griechische, auch syrische Christen.

STANDARD: Die Türkei hat mit der Enteignung der Griechen eine Art ursprünglicher Akkumulation betrieben?

Castorf: Kastrinidis’ Vorfahren stammen aus dem Pontus-Gebiet am Schwarzen Meer. Sie hat, als langjährige Schauspielerin, die Form der Brüchigkeit, die wir an der Volksbühne entwickelt haben, in den Text hinein übernommen. Dazu kommt das Licht der Ägäis. Man denkt sofort an Romy Schneider, an das amourös-terroristische Verhältnis mit Alain Delon. Dieses Assoziieren führt zu Gedankenmaterial.

STANDARD: Es geht um die Formulierung einer Widerstandshaltung?

Castorf: Es gab, in der Tradition der Arbeiteropposition in Sowjetrussland, die Solidarność in Polen. Alle in der DDR waren der Meinung, dass der Pole a priori ein fauler Mensch sei. Ich war anderer Meinung: Auch aus einer solchen Haltung entsteht Opposition. Ich erinnere mich noch gut dieses Gefühls der Hoffnung gerade derjenigen Bürger, die die DDR in einem assoziierten Zustand am Leben erhalten wollten. Doch was passierte? Die Leute haben vielleicht ihre Banane bekommen, aber eben keinen Mercedes-Benz. Heute kommt das alles wieder hoch.

STANDARD: In den neuen Bundesländern?

Castorf: Ich bin gerade von Köln nach Dresden gefahren. Ich weiß nicht, ob ich in diesen Dörfern jenseits der Grenze heute würde leben wollen. Da brodelt es unter der Oberfläche. Diese Stimmung war immer vorhanden. Eine Zeit lang bestand die Hoffnung, dass man am Reichtum partizipieren könne. Hingegen befindet sich die Stadt Köln in einem Zustand, dass man sagt: Die braucht eine Anschubfinanzierung. Ein Symbol der untergegangenen Bundesrepublik, Adenauers Versuch, ein Wirtschaftswunder unter der Decke zu veranstalten: Wir vergessen alles, wir packen alle an! Das ist jetzt verelendet und hat sich in ein Kulturressort verwandelt. Da gibt es ein Festival, und dort auch …

STANDARD: Das wäre unter Umständen ein gutes Zeichen.

Castorf: Aber die Menschen arbeiten nicht. Sie finden dort unzählige Obdachlose, Menschen aus Osteuropa, die dort dahinvegetieren. Wer kümmert sich darum, wie viele Viren die haben? Die sind lebende Leichname. Eine solche Verwaltung der Wirklichkeit kann man sich nur leisten, wenn man aus der begüterten Mittelschicht kommt. Deren Vertreter bauen sich jetzt die Welt selbst zusammen. Jetzt kommt Annalena Baerbock und erklärt Russlands Außenminister Lawrow, einem der schlitzohrigsten politischen Kampfhunde, die Welt. Man weiß genau, was ihm durch den Kopf geht. Meine Haltung wäre, sich Sachen so vorzustellen, wie sie sind, dabei gibt es sie noch gar nicht.

STANDARD: Wobei Sie die pandemischen Maßnahmen kritisieren.

Castorf: Schon meine Großmutter hat mir, als ich zwei Jahre alt war, beigebracht, dass ich mir die Hände waschen muss. Aber die Unverhältnismäßigkeit der Regelungen macht mir etwas aus, der ich aus einer Diktatur komme. Jemand wie Jan Josef Liefers, der heute wegen seiner Covid-Maßnahmen-Kritik keine Aufträge mehr bekommt, stand am 4. November 1989 auf dem Alexanderplatz und sagte: Nicht so weiter!

STANDARD: Sie kritisieren das Messen mit zweierlei Maß?

Castorf: Als ich an Handkes Stück arbeitete, musste ich an Georg Danzers Lied Freiheit denken. Es ist sehr schön, dass Handke den Literaturnobelpreis bekommen hat. Ich hätte mir nur gewünscht, dass nicht Bob Dylan, sondern Danzer ihn bekommen hätte. Woher diese Anbetung des Ist-Zustandes? Man kann alles verdrängen und sagen: Geschichte besteht nur aus dem Status quo. Aber aus der Vergangenheit erwächst das Jetzt. Mein Opportunismus funktioniert anders. Mittlerweile habe ich hier in Österreich die dritte Impfung bekommen. Zu Österreich habe ich instinktiv mehr Vertrauen. Ich verhalte mich lieber konträr zu Erwartungen.

STANDARD: Sie beargwöhnen Konformismus?

Castorf: Sie finden keine Intendanten mehr wie früher, wie Claus Peymann einer war. Der sammelte Geld für Gudrun Ensslin, damit die sich den Zahnarzt leisten konnte. Kein heutiger Intendant würde sich derart exponieren. Es gibt keine Peymanns mehr, keine Zadeks, keine Ivan Nagels. Heute sitzen sie alle wie Hunde von den Bremer Stadtmusikanten unterm Tisch, als ob sie geprügelt worden wären. Nur ab und zu steckt einer die Schnauze raus und bettelt: Bitte nicht schlagen! Nur ein bisschen mehr noch in den Napf hinein. Aller Widerstand ist verloren. Weil man die große Übereinstimmung gefunden hat. (INTERVIEW: Ronald Pohl, 29.1.2022)