Wer putzt sich da an wem ab? Die Tricksereien von Werner Kogler und Sebastian Kurz münden in Schuldzuweisungen.
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Es gibt Grüne, die fühlen sich schlicht hintergangen. Viel Einsatz haben sie zum Jahresbeginn 2020 gezeigt, um die erste grüne Beteiligung an einer Bundesregierung in der heimischen Geschichte durchzubringen. Besten Gewissens haben Funktionärinnen und Funktionäre auf dem entscheidenden Parteikongress für den Koalitionspakt geworben – um nun festzustellen, dass das nicht die ganze Wahrheit war.

Für Verstörung sorgen jene Sideletter zum Koalitionspakt, in denen die frischgebackenen Regierungsparteien Vereinbarungen getroffen haben, die nicht für das Licht der Öffentlichkeit bestimmt waren. ÖVP und Grüne haben darin nicht nur einen Modus Vivendi festgeschrieben, wie etwa im Ministerrat und Parlament miteinander umgegangen wird, sondern auch Personalfragen geregelt. Im Kern geht es um Posten, deren Besetzung der Regierung zusteht – von den Höchstgerichten über die Nationalbank bis zur EU. Festgeschrieben ist, wann die eine, wann die andere Koalitionspartei nominieren darf.

Prompt flog der Koalition der Vorwurf des Postenschachers um die Ohren, doch in den grünen Reihen scheint das nicht der große Aufreger zu sein. "Wir haben in der rot-grünen Koalition in Wien gelernt, was es heißt, keinen Sideletter zu haben", erzählt etwa ein erfahrener Funktionär. "Die SPÖ hat alle Posten besetzt, wie es ihr passte."

An der Basis vorbei

Mit "Das geht gar nicht" bewertet er allerdings einen anderen Teil der Nebenabsprachen. Darin haben ÖVP und Grüne inhaltliche Pläne fixiert, die so nicht im offiziellen Regierungsübereinkommen zu finden sind. Das ist, was Grüne aufregt: Denn offiziell hält die Partei Transparenz und Basisdemokratie hoch. Werner Kogler und sein Verhandlungsteam mussten den mit der ÖVP akkordierten Koalitionspakt deshalb dem grünen Bundeskongress – eine Art Parteitag – zur Abstimmung vorlegen. Der Parteichef hat dabei nicht vieles, aber doch Brisantes vorbeigeschleust.

Für den größten Ärger, so ist zu vernehmen, sorgt eine zweizeilige Festlegung. "Im Wirkungsbereich des Bildungsministeriums wird im Wege des Erlasses ein Kopftuchverbot für Lehrerinnen im Laufe der Legislaturperiode eingeführt", heißt es im Sideletter.

Wie es dazu kam? Im Koalitionspakt ist festgeschrieben, dass das damals bestehende Kopftuchverbot für Schülerinnen bis zum Alter von 14 Jahren ausgeweitet werde, doch Sebastian Kurz und die ÖVP wollten mehr. Da die Grünen aber einem Gesetz für die Lehrerinnen nicht zustimmen wollten, sollte das türkis besetzte Bildungsministerium das Verbot eben per Erlass durchsetzen.

Die ÖVP hat wohl deshalb auf dem Vermerk im Sideletter bestanden, damit die Grünen später keinen Koalitionsbruch beklagen und so tun könnten, als hätten sie nichts gewusst. Außerdem lässt sich so ein Zugeständnis bei der nächsten Debatte gut gegen den Koalitionspartner verwenden: "Regt euch nicht auf, ihr habt selber zugestimmt!"

"Naiv" nennen manche Grüne deshalb dieses Zugeständnis, ein auf Anonymität bedachter Mandatar meint gar, Kogler & Co könnten sich Relativierungen dazu "in die Haare schmieren". Zustimmung bleibe Zustimmung, auch in einem Sideletter.

Verunsicherung, Irritation, Wut

Faika El-Nagashi äußert sich offen. "Beschämend" und "politisch falsch" nennt die Nationalratsabgeordnete die Vereinbarung zum Kopftuchverbot via Twitter. Hinter diesem Vorhaben stehe nichts anderes als "antimuslimischer Rassismus". Der Sideletter sei ein Vertrauensverlust, der "Verunsicherung, Irritation und Wut" erzeugt habe. Es werde viele Gespräche zur Aufarbeitung brauchen.

Sie werde einem Kopftuchverbot nie zustimmen, schloss sich Parlaments-Kollegin Ewa Ernst-Dziedzic an: Mit rassistischem Populismus dürfe niemals Politik gemacht werden.

Die Parteispitze spricht hingegen von einem "Nullum". Es sei klar, dass ein solcher Erlass nie vor dem Verfassungsgerichtshof (VfGH) halte, argumentiert Klubchefin Sigrid Maurer, deshalb werde sich das Bildungsministerium auch davor hüten. Tatsächlich hat das ÖVP-geführte Ressort bisher keine Anstalten zur Umsetzung gemacht: Man sei mit der Pandemie beschäftigt, heißt es. In der Zwischenzeit hat der VfGH auch das Kopftuchverbot für Schülerinnen gekippt.

Pensionseinschnitte verschleiert

Ebenfalls für hitzige Debatten gut ist ein zweites Vorhaben. Die Hacklerregelung, die eine unverminderte Frühpension nach 45 Arbeitsjahren erlaubte, sollte wieder abgeschafft werden – ein Ärgernis für viele (angehende) Pensionisten. Kurz habe dies aus dem Koalitionspakt ausklammern wollen, um SPÖ und Gewerkschaft nicht gleich Munition zu liefern, erzählen Kogler und Maurer, verhehlen aber nicht, dass ihnen das auch ganz gelegen gekommen sei. Schließlich sei zu dem Zeitpunkt noch nicht paktiert gewesen, dass ein Teil der Einsparungen für einen Frühstarterbonus wieder ausgegeben wird. Die Sozialdemokraten hätten die Grünen deshalb leicht des Sozialabbaus bezichtigen können.

Umstritten ist auch die grüne Vorgangsweise beim ORF. Dass es da eine für parteiinterne Kritiker "inakzeptable" Personalabmachung gab, ist im Prinzip allerdings längst bekannt: Mediensprecherin Eva Blimlinger hatte im Sommer im STANDARD unverblümt einen solchen Deal bestätigt. Neu ist, dass das Drehbuch dafür bereits seit Antritt der Regierung besteht.

Zorn auch über die ÖVP

Nur ganz wenige hatten von alldem gewusst, gestehen Kogler und Maurer ein. Birgit Hebein, damals führende Koalitionsverhandlerin zum Thema Soziales, sagt: Sie habe vom Sideletter erst jetzt erfahren.

Bekommt Kogler für den Alleingang eine saftige Rechnung präsentiert? Berichtet wird von einigem Unmut, doch ein Aufstand zeichnet sich nicht ab. Zu sehr zehrt der Parteichef seit dem Kurz-Sturz vom Drachentöterimage.

Außerdem richtet sich Zorn auch gegen die ÖVP. Manche Grüne wollen nicht glauben, dass hinter der Veröffentlichung der Sideletter – wie Kogler und Maurer mutmaßen – nur die Partie um Kurz stehe. Offenbar bereite die Kanzlerpartei den Boden für den nahenden Untersuchungsausschuss auf. Argumentationslinie: Beim Packeln und Postenbesetzen seien alle gleich. (Gerald John, 1.2.2022)