Hätte Judith mich nicht angerufen, wäre es wohl ein ruhiger, fauler Sofasonntag geworden. Zu Recht. Schließlich hatte der Wetterbericht Sturm prophezeit – und bei Böen mit (zumindest angekündigten) 100 km/h ist Laufen nicht nur nicht wirklich lustig, sondern auch gefährlich. Im Wald jedenfalls.

Und eigentlich hatte ich genau das geplant gehabt: Trailtraben. Länger und gemütlich. Irgendwo hügelig im Wienerwald.

Aber wenn am Tag davor in allen einschlägigen Foren Screenshots von Wetter-App-Warnungen gepostet werden und die üblichen Verdächtigen (durchwegs Auskenner) "lieber nicht" mahnen, klingt die Kombi "erst Yoga und Savasana, dann Sofa und Sachertorte" auch okay.

Foto: Tom Rottenberg

Nur hatte ich die Rechnung eben ohne Judith gemacht. Judith ist eine Uraltfreundin. Kennengelernt haben wir einander, als wir vor etlichen Jahren als Begleitläufer (und -in) einmal pro Woche mit den Internats-Kids des Blindeninstitutes über die Hauptallee trabten.

Seither laufen wir lose hin und wieder ein bisserl gemeinsam – aber wirklich oft waren wir in letzter Zeit nicht zusammen unterwegs. Weder laufend noch sonst wie.

Aber wie der Zufall so will, liefen wir einander kürzlich über den Weg. Ja, sagte Judith, sie laufe noch. Wieder. Sie kokettiere mit einem Start beim VCM-Halbmarathon im Frühjahr in Wien. Nur habe sie in letzter Zeit zu viel um die Ohren gehabt, um sich wirklich in Form zu fühlen. Judith seufzt: "Ich kann das nicht."

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Die Sache ist die: Judith "kann" Halbmarathon. Nur ist es halt ein Zeiterl her, dass sie die 21 Kilometer im Wettkampf gelaufen ist.

Und auch wenn sie jetzt wieder regelmäßig Laufschuhe anzieht und zwei- bis dreimal pro Woche rennt, ist da diese eine große Unbekannte im Kopf. Erst recht, wenn man (oder in dem Fall frau) ohne Betreuung, ohne echte Struktur und in Judiths Fall sogar ohne Uhr unterwegs ist: die Frage, wo man eigentlich steht. Ob man "es" überhaupt noch kann.

Und aus dieser Unsicherheit heraus kommt dann oft jener Satz, den man nicht mehr loswird. Der sich im Kopf festsetzt – und der sich nur allzu leicht beweisen lässt: "Ich kann das nicht."

Foto: Tom Rottenberg

Gegen diesen Satz hilft genau eines: der Gegenbeweis. Die Falsifikation. Dafür muss man nur eines machen: das Gegenteil von dem tun, was man sich da gerade einredet. Auch auf die Gefahr hin, zu scheitern: Das kann nämlich auch passieren. Immer. Aber ob man dann "Aufrappeln, Krone zurechtrücken, noch einmal versuchen" sagt oder "Ich hab es doch gleich gewusst", hängt recht ursächlich mit jenem Mindset zusammen, mit dem man in die Sache reingegangen ist: "Ich kann das nicht" ist dafür die allerschlechteste Ausgangsposition.

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Also beschlossen Judith und ich, gemeinsam zu laufen. Und zwar lang. Richtig lang. "Aber ich bin langsam. Viel zu langsam für dich." Wie oft ich diesen Satz schon gehört habe, kann ich nicht sagen. Aber ich weiß, dass er falsch ist. Immer. Nicht weil ich so ein schneller Läufer wäre. Mitnichten. Das war ich nie – und werde es natürlich auch nicht mehr werden.

Aber bei "Longruns" geht es auch um etwas ganz anderes: vereinfacht gesagt darum, bei vergleichsweise niedriger Intensität möglichst lange eine möglichst konstante Leistung abzuliefern. Über die Dauer finden da auch unterschiedlich "starke" Läuferinnen zueinander: Zweieinhalb Stunden laufen ist nämlich auch langsam anstrengend. Sie können es auch "Training in der Grundlage" nennen.

Foto: Tom Rottenberg

Wenn man die Strecke "richtig" wählt, lassen sich auch Passagen und Elemente einbauen, bei denen es tatsächlich wurscht ist, wie langsam der eine oder wie schnell die andere in der Ebene unterwegs wäre: Ich bin den "Nasenweg", also die Stiegen vom Kahlenbergerdörfl, hinauf auf den Leopoldsberg, noch nie in einem durchgelaufen. Ich kenne zwar ein paar, die das tun und können, aber in meiner Liga wird da immer sehr bald allerhöchstens zügig gegangen. Auch das ist noch anstrengend genug: Ich bin hier – vor Jahren – einmal mit Gerlinde Kaltenbrunner raufmarschiert. Österreichs erfolgreichste Extrembergsteigerin schnaufte dabei fast so wie ich und alle anderen in der Gruppe. Obwohl sie jeden von uns mit Leichtigkeit hätte abhängen können. Nur: Warum hätte sie das tun sollen? Es ging um die Strecke – und um das gemeinsame Erleben.

Foto: Tom Rottenberg

Genau das war auch die Idee dieses Sonntagslaufes: Das Wetter war – höflich gesagt – bescheiden. Der Wind pfiff, wenn auch schwächer als angekündigt, recht heftig donauabwärts.

Um sich das Laufen da weniger zach zu machen, gibt es zwei Binsenweisheiten: gegen den Wind starten – und irgendwann bergauf. Wieso? Gegenwind am Anfang bedeutet (meistens) Rückenwind am Schluss. Und: Beim Bergauflaufen (oder -gehen) fällt Gegenwind meist eine Spur weniger auf. Weil Klettern sowieso immer anstrengend ist. Unsere Route ergab sich damit quasi von selbst: von der Innenstadt den Donaukanal flussaufwärts. Dann auf den Kahlenberg – und wieder zurück.

Foto: Tom Rottenberg

Dass man über diese Runde auch etliche Wienbilder vermitteln kann, ist quasi der Kollateralnutzen: Beim Mozartdenkmal im Burggarten beginnt man als 0815-Tourist, der sich auch Hofburg, Volksgarten, Burgtheater und Ring anschaut.

Dann, am Kanal, wird es geringfügig spezifischer: Hundertwasser ist auch noch Klischee pur – aber Jugendstil ausgerechnet an der Nussdorfer Schleuse zu suchen (und zu finden), fällt schon deutlich weniger WienbesucherInnen ein.

Und was in der Ebene dann weiter draußen am Fluss kommt, sehen meist ohnehin nur Donau-Kreuzfahrttouristen, deren Schiffe nicht an den Premium-Piers der Reichsbrücke anlegen.

Foto: Tom Rottenberg

Klar: Oben, den Blick vom Kahlenberg auf die Stadt herunter, kennen dann wieder mehr – aber längst nicht alle. Der Weg auf den Aussichtsberg steht nämlich nicht wirklich auf dem Standardprogramm der "klassischen" Zwei-Tage-Wien-Touren: So schön der Blick auch ist – und bei stürmischem Wetter wird die Staub- und Dunstglocke über der Stadt ja meist weggeblasen –, haben die meisten Wien-Besucher in ihren durchgetakteten Tagesabläufen einfach nicht genug Zeit, um hier herauszukommen. Schade – auch weil sie so eine meiner liebsten Wien-Geschichten nie hören. Die vom verschobenen Bergnamen nämlich.

Foto: Tom Rottenberg

Wobei: Die kennen ja auch die meisten Wiener nicht. Oder wussten Sie, dass der historisch "echte" Kahlenberg eigentlich der Leopoldsberg ist? Der heutige Kahlenberg hieß nämlich bis ins 17. Jahrhundert zunächst "Sauberg" und wurde 1628 in "Josephsberg" umbenannt. Über ihn und den damaligen Kahlenberg griff 1683 das "Entsatzheer" von Jan Sobieski die Wien belagernden Türken an: Die Hänge der Berge waren seit jeher kahl – schon der Anblick der wie eine Lawine auf sie herabrollenden Truppen soll die Belagerer in Panik versetzt haben.

Foto: Tom Rottenberg

Zum Kahlenberg wurde der Sau- oder Josephsberg dann 1693, als Kaiser Leopold auf dem Ur-Kahlenberg eine dem heiligen Leopold gewidmete Kapelle errichten ließ.

Nein, das wissen auch die meisten WienerInnen nicht. Probieren Sie es in Ihrem Bekanntenkreis aus. Am besten beginnen Sie mit einer schlichten Frage: "Wieso heißt das Dorf am Fuß des Leopoldsberges eigentlich Kahlenbergerdörfl?"

Die Geschichte funktioniert in fast jeder Lebenssituation. Auch beim Laufen. Hier hat sie aber noch einen enormen Vorteil: Beim Zuhören, Staunen und Lachen vergisst das Publikum, dass es sich gerade ziemlich anstrengt. Ja, auch wenn es längst wieder bergab geht.

Foto: Tom Rottenberg

Was auch hilft: nicht nur schöne, sondern auch ein paar skurrilere "Panoramastellen" zu kennen. Den Kickl-Spruch hier gibt es mittlerweile über ein Jahr (vielleicht ja noch länger) – er funktioniert aber immer.

Die Halbwertszeit der Grafittis "unten" am Kanal, wenn man wieder zurück in die Stadt läuft, ist dagegen deutlich geringer.

Das ist einerseits schade, andererseits aber auch gut: Das "Lesen" der "Straßenzeitung", die Suche nach Neuem oder Verändertem, lenkt Menschen, die eigentlich schon auf Reserve unterwegs sind, oft davon ab, darüber nachzudenken, wie gaga oder sonst wie fertig sie jetzt eigentlich schon sind.

Foto: Tom Rottenberg

Das funktioniert: Die letzten Kilometer lief Judith auf Autopilot. Hätte sie eine Uhr dabeigehabt, hätte ich sie ihr spätestens jetzt abgenommen. Und dass ich irgendwann – oben, als wir den Blick über die Stadt genossen hatten – vergessen hatte, meine wieder anzuwerfen und wir so mindestens einen Kilometer (und sechs Minuten) mehr gelaufen waren, als mein Wecker zeigte, verschwieg ich: Jemand, der mit "Ich kann das nicht" im Kopf losläuft, braucht all das jetzt nicht zu wissen.

Foto: Tom Rottenberg

Für diesen Menschen zählt in diesem Moment nämlich anderes.

Etwa aus dem Stand und bei teils heftigem Gegenwind einen Halbmarathon mit ein paar hundert Höhenmetern gelaufen zu sein. Ohne Vorbereitung – aber auch ohne je wirklich im roten Bereich unterwegs gewesen zu sein. Aber dennoch schneller als beim ersten gewerteten Mal vor ein paar Jahren, beim Wettkampf in der Ebene.

Und dann laut loszulachen.

Und jenen Satz zu sagen, um den es von Anfang an ging:

"Ich kann das!" (Tom Rottenberg, 1.2.2022)


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