Im Gastkommentar kritisieren Claudia Kuretsidis-Haider und Winfried R. Garscha von der Zentralen österreichischen Forschungsstelle Nachkriegsjustiz, dass empirische wissenschaftliche Forschung ignoriert werde.

"Cui bono?", beschleicht es die Leserin und den Leser bei der Lektüre der von Klaus Taschwer beschriebenen, von Kurt Bauer für das Ludwig-Boltzmann-Institut für Kriegsfolgenforschung erstellten Studie über den Anteil von Österreichern an den NS-Verbrechen (DER STANDARD, 26.1.2022). Wem nützt es, eine scheinbar wissenschaftliche, in Wahrheit aber bloß statistische Debatte darüber zu führen, wer die "Böseren" waren? Die Österreicher und Österreicherinnen oder doch die Deutschen? Werden durch den bloßen Zahlenvergleich die Verbrechen kleiner?

Wir erfahren als Ergebnis der Studie: "Ein überdurchschnittlich hoher Anteil von Österreichern an Nazi-Tätern ist nicht nachweisbar." Damit könne man nun – endlich – Simon Wiesenthals Anklage, "Österreicher [hätten] in der NS-Zeit überproportional viel Schuld auf sich geladen", widerlegen; als hätte es in den Jahrzehnten seit dieser "Behauptung" Wiesenthals keinerlei empirische Forschung dazu gegeben, wie auch Heidemarie Uhl von der Akademie der Wissenschaften bekannt sein sollte.

Diese Forschungen belegten, dass in den Stäben von Adolf Eichmann und Odilo Globocnik wie auch in der deutschen Wehrmacht auf dem Balkan besonders viele Österreicher verbrecherisch tätig waren. Andererseits war der Anteil von Österreichern ausgerechnet im KZ Auschwitz unterdurchschnittlich. Was wird damit bewiesen?

Adolf Eichmann, einer der bekanntesten NS-Verbrecher aus Österreich, wurde 1961 in Israel vor Gericht gestellt.
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Unerklärlicher Zeitraum

Nicht schlüssig ist Taschwers Bericht aber auch beim Vergleich der gerichtlichen Verfolgung von NS-Verbrechen in der Bundesrepublik Deutschland und in Österreich. Richtig ist, dass hüben wie drüben über die Jahrzehnte gesehen nur ein geringer Prozentsatz der Täter und Täterinnen vor Gericht gestellt wurde. Das hat viele gesellschaftspolitische, aber auch komplexe juristische Gründe. Um eine seriöse Aussage darüber treffen zu können, bedarf es jedoch einer genauen Analyse der verschiedenen Perioden der Ahndung von NS-Verbrechen vor dem Hintergrund der jeweiligen gesetzlichen und politischen Rahmenbedingungen. Und da ergibt sich ein durchaus differenziertes Bild.

Weshalb gerade der Zeitraum 1956 bis 1965 hervorgestrichen wird, der für die Täterverfolgung weder in Deutschland noch in Österreich irgendwelche Zäsuren markiert, ist unerfindlich. Eine Zäsur stellt vielmehr in beiden Ländern der Beginn des Kalten Krieges dar. In Österreich wurden allein von 1945 bis 1948 vor den eigens dafür eingerichteten "Volksgerichten" fast 137.000 Verfahren eingeleitet. Bis zu ihrer Abschaffung 1955 sprachen diese Gerichte mehr als 13.000 Verurteilungen aus, verhängten 43 Todesurteile, von denen 30 vollstreckt wurden.

Kalter Krieg als Zäsur

Der aufkommende Kalte Krieg und das Rittern um eine halbe Million Stimmen von ehemaligen NSDAP-Mitgliedern führten dann zu anderen Prioritäten als jener der Aufarbeitung der NS-Verbrechen. Die österreichische Justiz der ersten Nachkriegsjahre brauchte jedoch – bei all ihren zu kritisierenden Schwächen und Mängeln – einen internationalen Vergleich nicht zu scheuen. Wiewohl man die nachfolgende großzügige Begnadigungspraxis der Politik nicht außer Acht lassen darf.

Nach 1955 wurden tatsächlich nur mehr wenige mutmaßliche Täter vor Gericht gestellt. Obwohl die österreichische Justiz in mehr als tausend Fällen ermittelte, gibt es seit 1975 kein verurteilendes Erkenntnis mehr gegen einen Angeklagten wegen NS-Verbrechen. Einige Prozesse gingen mit Skandalurteilen in die Justizgeschichte ein, etwa der Fall Franz Murer, 2018 im ausgezeichneten Film Murer – Anatomie eines Prozesses dargestellt.

Im Sand verlaufen

In der BRD hingegen wurde 1958 in Ludwigsburg die Zentrale Stelle der Landesverwaltungen gegründet, eine staatsanwaltschaftliche Vorermittlungsbehörde, die Verfahren anklagereif machte und umfassende Vorermittlungen führte. Doch wer sich einmal durch die abertausenden Akten der Zentralstelle (heute Außenstelle des Bundesarchivs Berlin) gearbeitet hat, weiß, wie viele Verfahren auch dort im Sand verlaufen sind und dass es auch in der BRD überwiegend milde Urteile gab. Ein Pendant zur Ludwigsburger Zentralstelle existierte in Österreich nur im Bereich der polizeilichen Ermittlungen – eine eigene Abteilung im Innenministerium, deren Ermittlungsergebnisse von den Staatsanwaltschaften aber eher zögerlich aufgegriffen wurden.

Empirische wissenschaftliche Forschung zu all diesen Themen gab und gibt es sowohl in Deutschland als auch in Österreich seit mittlerweile Jahrzehnten. Taschwers Alleinstellung der jüngsten Arbeit Bauers zeigt, dass derartige Arbeiten im öffentlichen, leider aber auch im wissenschaftlichen Diskurs kaum wahrgenommen werden. Wie etwa auch von der Mitarbeiterin der Gedenk- und Bildungsstätte Wannseekonferenz Deborah Hartmann ("Ein Schreckensort des Holocaust", DER STANDARD, 19. 1.), die beklagte, man vermisse in Österreich ein Dokumentationsarchiv, das sich mit der "österreichischen Beteiligung am Holocaust und der österreichischen Täterschaft" befasse. Das passt ins Bild. Sie kennt vom Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes offenbar nur dessen Namen, von der Zentralen österreichischen Forschungsstelle nicht einmal diesen, geschweige denn die von hier aus publizierten Arbeiten der letzten Jahrzehnte. (Claudia Kuretsidis-Haider, Winfried R. Garscha, 8.2.2022)