Es gab Zeiten in der Pandemie, da wurden die Schulkinder in den Distanzunterricht komplimentiert, um andere zu schützen. Mit der Impfung gilt diese Logik nicht mehr.

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Österreichweit blieben am Dienstag mit Ausnahme von Wien und Niederösterreich, wo bereits Semesterferien sind, 1391 von insgesamt 58.000 Klassen sowie fünf der rund 6000 Schulen leer. Die Schülerinnen und Schüler, die dort normalerweise lernen, befinden sich nämlich im Distanzunterricht, weil es bei ihnen mehrere Corona-Fälle gab.

Laut Verordnung geht bei einem positiv getesteten Kind der Präsenzunterricht in der Klasse ohne den betroffenen Schüler oder die jeweilige Schülerin weiter. Die übrigen Kinder in der Klasse müssen dann fünf Tage lang täglich getestet werden. Sollte binnen drei Tagen ein weiterer Covid-Fall in der jeweiligen Klasse auftreten, schickt die Schulbehörde den gesamten Klassenverband nach Hause, und es wird auf Distance-Learning umgestellt.

Reintesten statt Distanzunterricht

Das sorgt bei vielen Eltern für Unmut und Unverständnis. Auch Experten wie der Epidemiologe Gerald Gartlehner sehen diese Vorgangsweise, gleich ganze Klassen oder Schulen quasi stillzulegen und ins schulische Homeoffice zu schicken, kritisch: "Das läuft bei den Schulen derzeit nicht gut", sagt der Leiter des Departments für Evidenzbasierte Medizin und Evaluation der Donau-Uni Krems im STANDARD-Gespräch: "Viel sinnvoller wäre das, was auch die Europäische Gesundheitsbehörde ECDC empfiehlt: Die Kinder, die positiv getestet wurden, sollen sich reintesten, und alle anderen, die negativ sind, haben weiter Präsenzunterricht, und die Schulen bleiben offen. Es sollen nicht ganze Klassen in Quarantäne oder ins Distance-Learning geschickt werden, nur weil es zwei positive Fälle gibt."

Gartlehner meint "angesichts der Tatsache, dass Omikron jetzt viel mehr als die Virusvarianten davor bei Kindern, wenn sie keine Vorerkrankungen haben, in der Regel mild verläuft", dass ein PCR-Test pro Woche und regelmäßige, verlässliche Antigentests genügen würden, um das Infektionsgeschehen in den Schulen unter Kontrolle zu halten.

Sichere Schulen mit allen Maßnahmen

In welche Schule, in welches Umfeld aber schicken wir in der jetzigen Phase der Pandemie die Kinder und Jugendlichen? Wie sicher ist dieser Ort für sie? Eine, die das weiß, ist die Komplexitätsforscherin Jana Lasser, die seit Beginn der Pandemie die Corona-Ausbreitung in spezifischen Kontexten – Schulen, Altenheime, Universitäten – modelliert. Die derzeit grassierende Virusvariante hat die Ausgangslage und damit die Parameter des Modells stark verändert, erklärt Lasser: Omikron ist etwa dreimal infektiöser als Delta, die Inkubationszeit zwischen Ansteckung und ersten Symptomen deutlich kürzer.

Mit welchen Folgen? "Was mein Modell mir sagt: Man kann Schulen schon sicher gestalten, aber der Preis ist sehr hoch", erklärt Lasser, die am Computational Social Science Lab an der TU Graz und am Complexity Science Hub Vienna forscht: "Man muss alle verfügbaren Maßnahmen – konsequent und richtig Maske tragen, Klassen wirklich halbieren, wie im ersten Jahr der Pandemie in den Oberstufen geschehen, pro Woche zwei PCR-Tests bei allen Lehrkräften sowie Schülerinnen und Schülern, deren Ergebnisse auch spätestens nach einem Tag da sind, und viel lüften, einmal pro Schulstunde fünf Minuten Durchzug – kombinieren, dann schafft man es, Ausbrüche in Zaum zu halten und zu kontrollieren." Das heißt, dass eine Infektion, die in eine Schule hineingetragen wird, dort im Schnitt weniger als eine weitere Person ansteckt. Es heißt jedoch nicht, dass es nicht auch ein paar große Ausbrüche geben kann.

Was ist realistisch?

Jetzt kommt das Aber: "Diesem Modell für sichere Schulen liegt die Annahme zugrunde, dass alle Maßnahmen perfekt umgesetzt werden", sagt Lasser. "Aus meiner alltäglichen Erfahrung mit dieser Pandemie kommt mir diese Annahme zunehmend unrealistisch vor, und es stellt sich daher die Frage, ob es überhaupt noch realistisch ist, zu versuchen, Ausbrüche komplett zu unterdrücken."

Welcher Schluss lässt sich daraus ziehen? Derselbe, den die Komplexitätsforscherin in einer Studie für die Universitäten gezogen hat: "Wenn die Priorität ist, Ausbrüche zu verhindern, dann muss man sehr, sehr drastische Maßnahmen in Kauf nehmen, und wenn die Priorität ist, einen ungestörten Schulbetrieb zu ermöglichen, dann muss man Ausbrüche in Kauf nehmen." Beides hat Konsequenzen.

Wer sein Kind impft, schützt es

Nachfrage beim Leiter der Kinderklinik I der Med-Uni Innsbruck, Thomas Müller. Wie würde er die pandemische Doppelmühle auflösen? Der Pädiater setzt klar auf offene Schule. Den Unterschied zu früheren Wellen mache die Impfung ("gut verträglich, bewährt") aus: "Wer sein Kind bestmöglich vor MIS-C, einer überschießenden Reaktion des Immunsystems, und wahrscheinlich auch vor Long Covid schützen will, muss es impfen lassen", sagt Müller. Bis jetzt habe man in Innsbruck keine geimpften Kinder mit Covid oder als MIS-C-Patienten behandeln müssen. "Vor der Impfung haben wir die Kinder weggesperrt, um die anderen zu schützen. Jetzt ist die Schule nicht mehr da, um Omikron zu bremsen. That’s over."

Wer sich schützen wolle, habe genügend Gelegenheiten gehabt: "Da ist es schwer zu argumentieren, dass die Minderheit der Ungeimpften die Schulkinder in Geiselhaft nimmt und sagt, wir wollen Distance-Learning." Wer sein Kind doppelt absichern wolle, solle es in der Schule weiter FFP2-Maske tragen lassen, empfiehlt Müller und sagt: "Wir müssen vertretbar weiterleben. Für ein geimpftes Kind sehe ich das Risiko jetzt nicht in der Schule. (Lisa Nimmervoll, 9.2.2022)