Im Gastblog sprechen die Wissenschafterinnen Viktoria Pammer-Schindler und Mia Bangerl mit Guilherme Wood über digitale Interaktion.

Guilherme Wood ist Professor am Institut für Psychologie an der Universität Graz, wo er den Arbeitsbereich Neuropsychologie und Neuroimaging leitet. Ein Schwerpunkt in seiner Forschung liegt in der kognitiven Rehabilitation von Patientinnen und Patienten mit neurologischen und psychiatrischen Erkrankungen. Besonders interessiert sich Wood für Neurofeedback. Dabei präsentiert man einem Menschen in leicht verständlicher Form dessen Gehirnaktivität, die man gerade trainieren will, zum Beispiel wie aufmerksam oder wie entspannt man ist.

Im Digitalen bleibt das Gegenüber unvollständig und die Situation unspezifisch

Für Wood ist vollkommen klar, dass digitale Mensch-zu-Mensch-Interaktion ganz anders ist als Interaktion in der physischen Welt: "Die Qualität der Stimulation ist eine ganz andere. Es gibt weniger soziale Hinweise, es fehlen viele Aspekte der nonverbalen Interaktion, wie zum Beispiel Mimik, Körperhaltung, die dritte Dimension und Gestik." Die Information über unsere Gesprächspartnerinnen und -partner sei grundsätzlich unvollständig. Wood führt aus: "Die Menschen erscheinen auf dem Bildschirm unnatürlich klein. Man sieht nur einen sehr kleinen Ausschnitt der Umwelt des Gegenübers – meistens sieht man nur einen kleinen Rahmen um ihr Gesicht." Menschen sind in der digitalen Interaktion laufend damit beschäftigt, fehlende Information zu ergänzen und auszugleichen. Das wiederum ist ermüdend.

Zusätzlich beinhalten digitale Interaktionen weniger "Erinnerungswert": "Diese bunte Scheibe hier aus Bügelperlen zum Beispiel ist unwichtig für dieses Gespräch, macht aber die Gesamtsituation besonders und einprägsam." Durch solche spezifischen Elemente werden Situationen unterschiedlich, und man kann sich die einzelne Situation einfacher merken.

Digitale Interaktionen ähneln einander immer wieder in vielen Details. "Je prägnanter eine Begegnung ist, desto stärker wirkt sie auf unsere Zielsetzungen, desto stärker integriert sie sich mit unserem Wissen, und desto stärker wirkt sie auf uns als Ganzes", so Wood. Digitale Begegnungen erfordern daher sehr viel Aufmerksamkeit und geistige Energie, um die Interaktion und ihre Inhalte zu erfassen und sie zu einem kohärenten Ganzen zu verbinden.

Wer Videocalls oder Ähnliches ermüdend findet, ist nicht alleine damit. Das Gehirn muss sich deutlich mehr anstrengen, um Inhalte zu erfassen und zu kontextualisieren.
Foto: AFP/SAM REEVES

Wir lernen gerade als Gesellschaft etwas Neues: dauerhafte selektive Aufmerksamkeit

"Man beansprucht bei digitalen Interaktionen mit anderen Menschen immer die selektive Aufmerksamkeit, weil so kleine Regionen besonders wichtig sind. Man muss auf einen Laptop-Bildschirm fokussieren oder auf ein Smartphone-Display, nicht auf den ganzen Raum rund um einen herum. Das ist ein sehr spezifischer Modus der sozialen Wahrnehmung. Es kostet viel Energie, sich da reinzubringen, man muss ja die ganze Umgebung ausblenden. In der natürlichen Umgebung, evolutionär betrachtet, war das nie eine gute Idee. Da liefe man Gefahr, getötet zu werden", erklärt Wood.

Das hat aber natürlich Folgen: Wir lernen als Gesellschaft gerade dauerhafte selektive Aufmerksamkeit, also uns sehr lange auf so kleine Ausschnitte aus der Realität, nur auf einen Bildschirm, zu konzentrieren. Gleichzeitig lernt man dabei aber natürlich auch, den vorhandenen Raum "zu vergessen". In weiterer Folge heißt das, wir lernen, uns absichtlich abzulenken von allem, was rundherum passiert.

Parallel gibt es aktuell großes Interesse an "Mindfulness". Darunter versteht man eine umfassende Achtsamkeit, die nicht auf einen kleinen Ausschnitt der Welt gerichtet ist. Auch dafür gibt es mittlerweile technische Hilfsmittel, man könne zum Beispiel Neurofeedback verwenden, um Mindfulness zu erhöhen. Das funktioniert. Andererseits könne man sich auch einfach einen angenehmen Tag machen und spazieren gehen oder ein gutes Buch lesen, so Wood. Auch das ist "Mindfulness".

Mit digitaler Hilfe in der Welt sein

Wood arbeitet in seiner Forschung allerdings mit Patienten und Patientinnen, die neurologische Störungen haben, etwa in Zusammenhang mit Alterungsprozessen. Diese Patienten und Patientinnen haben zum Beispiel Schwierigkeiten mit der Sprache, mit der Organisation von Gedanken, oder Orientierungsschwierigkeiten. "Solche Störungen erschweren natürlich das Interagieren mit anderen: Man wird nicht für voll genommen und bekommt auch keine positiven Rückmeldungen von anderen. Die Frage hier ist: Wie können digitale Technologien bei der Diagnose und bei der Rehabilitation helfen oder überhaupt das alltägliche Leben erleichtern? Es geht um die Erhöhung der Autonomie", erklärt Wood.

Als ein Beispiel nennt er Computerprogramme, mit denen man (wieder) sprechen lernen kann. "Diese Computerprogramme können bei Übungen mit einem Patienten eine große Unterstützung der Arbeit von menschlichen Therapeuten und Therapeutinnen leisten", erklärt er.

Als ein weiteres Beispiel nennt Wood ganz einfache Telefone oder Navigationssoftware, wie sie heutzutage auf den meisten Smartphones verfügbar ist. "Für manche Menschen ist die Navigation im Raum schwierig, also man vergisst, wo man ist oder wie man wieder nach Hause kommt. Mit digitalen Technologien kann man immer eine Vertrauensperson erreichen oder von dieser lokalisiert nach Hause zurückgelotst werden". In diesen Beispielen helfen moderne Technologien Menschen mit neurologischen Störungen dabei, in der physischen Welt und in Interaktion mit anderen zu leben. Ziel ist es, in der Welt zu sein. (Viktoria Pammer-Schindler, Mia Bangerl, Franziska Gürtl, Bernhard Wieser, 17.2.2022)