Mit dem Amt des Bundeskanzlers, dem Chefsessel der Republik, scheint sehr viel weniger Macht verbunden als gedacht. Denn obwohl beide Regierungsparteien bekräftigen, das antiquierte Amtsgeheimnis wirklich abschaffen zu wollen, gelingt Regierungschef Karl Nehammer dieses Vorhaben nicht.

Seine Parteikollegin, Verfassungsministerin Karoline Edtstadler, erklärt das mit dem intensiven Widerstand aus allen Richtungen: Weder Städte- noch Gemeindebund wollten das Gesetz in der jetzigen Form, aber auch die Bundesländer sind offenbar nicht dafür, dass Bürgerinnen und Bürger künftig leichter Informationen von öffentlichen Stellen bekommen. Auch (teil)staatliche Unternehmen wehren sich dagegen, von der Auskunftspflicht umfasst zu sein.

Bundeskanzler Karl Nehammer kann oder will die Reform des Informationsfreiheitsgesetz nicht durchsetzen.
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Nun liegt es aber in der Natur der Sache, dass eine Regierung wichtige Reformen auch gegen einen Widerstand beschließt. Das stört Regierende sogar sehr selten, sie haben ja eine Mehrheit der wählenden Bevölkerung hinter sich. Es gibt beim Amtsgeheimnis nur eine Playerin, die Türkis-Grün tatsächlich überzeugen muss: Die Regierung braucht die SPÖ für die notwendige Zweidrittelmehrheit in beiden Kammern des Parlaments. (Rechnerisch wäre auch die FPÖ möglich, die Interesse daran aber nicht einmal vorzutäuschen versucht.)

Mit der Sozialdemokratie ist es zugegebenerweise schwierig. Die Parteispitze spricht sich für die Reform aus, mit Bürgermeister Michael Ludwig sitzt aber ein entschiedener Kritiker im Wiener Rathaus – und in wichtigen roten Gremien. Ludwig zeigt auch in der Praxis, wo er in Sachen Transparenz steht: Selbst nach einem höchstgerichtlichen Urteil rückte die Stadt angefragte Informationen nicht heraus.

Informationsfreiheitsgesetz

So weit, dass sie mit der Abschaffung des Amtsgeheimnisses an der SPÖ scheitern könnte, kommt die Koalition allerdings erst gar nicht. Die ÖVP blockiert das Informationsfreiheitsgesetz. Schon bei seiner Angelobung war zwar klar, dass Nehammer von den schwarzen Landesorganisationen weniger Spielraum erhält als sein Vorvorgänger Sebastian Kurz. Allerdings: Im Kanzleramt sitzt – immerhin schon seit zwei Monaten – der Bundeskanzler und nicht die Landeshauptleute.

Dass die Abschaffung des Amtsgeheimnisses seit einem Jahr unbeschlossen ist, lässt nur zwei Schlüsse zu.

Entweder: ÖVP-Chef Nehammer hat in seiner Partei noch viel weniger Einfluss als angenommen. Er versucht, ein wichtiges Projekt der Koalition umzusetzen, scheitert aber an den Gegenstimmen aus Rathäusern und Landeshauptstädten. Das wäre ein Armutszeugnis.

Oder: Der Bundeskanzler hat gar kein aufrichtiges Interesse an der Informationsfreiheit. Das wäre fatal, weil sich die ÖVP in einer wirklichen Korruptionskrise befindet. Gegen die Partei wird von der Staatsanwaltschaft ermittelt – unter anderem wegen fragwürdiger Studien, deren Inhalte lange geheim waren, nach dem neuen Gesetz aber automatisch hätten veröffentlicht werden müssen.

Österreich hat also einen Regierungschef, der eine so wichtige Reform nicht umsetzen will oder sie nicht durchsetzen kann. Und dazu einen kleinen Koalitionspartner, der die Verschleppung seines Prestigeprojekts hinnimmt. Damit bleibt, was Transparenz betrifft, das Land auf absehbare Zeit im vorigen Jahrhundert stecken. (Sebastian Fellner, 16.2.2022)