"Rechnitz", jetzt in Bosnien: Sead Pandur und Selma Alispahić berichten davon, wie man die Ermordeten wieder ausgrub, um das Verbrechen zu vertuschen.

Foto: Dženat Drekovič

Die Massengewalt wird langsam aus der Sprache herausgeschält, die Grausamkeit versteckt sich hinter Wortspielen: Am Freitag wurde das Stück Rechnitz von Elfriede Jelinek erstmals in der bosnischen Hauptstadt Sarajevo am Kriegstheater SARTR mit Unterstützung des österreichischen Kulturforums des Außenministeriums in Szene gesetzt.

Die Ermordung von etwa 200 jüdisch-ungarischen Zwangsarbeitern im burgenländischen Rechnitz in den Ostertagen 1945 wird meist nur in Nebensätzen erwähnt. "Die haben ja alle geschossen, ich habe sie gesehen", sagt etwa eine der Figuren, und die ungezügelt expressive Selma Alispahić tanzt derweil vergnügt mit ihrem Gewehr.

Sie ist eine von fünf Boten und Botinnen, die Regisseurin Sabine Mitterecker auftreten lässt. Der Botenbericht wird von Jelinek wie in einem griechischen Drama genutzt, um das Nichtdarstellbare zu erzählen. In der Inszenierung von Mitterecker spiegeln die Boten aber auch reale historische Figuren wider.

Sie berichten oft von Sprechverboten. "Jeder Bote weiß, wann er zu schweigen hat", heißt es etwa. "Das hat er gelernt. Das hat er in diesem Land gelernt. In diesem Land halten immer alle dicht, sogar die Senkgruben." Wie zeitgemäß solche Sätze gerade in Bosnien-Herzegowina sind, hat Dramaturgin Nejra Babić erkannt, die die Idee hatte, Rechnitz in ihrer Heimat, einem "Land des Leugnens", aufzuführen.

Wegen des allgegenwärtigen politischen Revisionismus wird in Bosnien-Herzegowina vieles über den Krieg verschwiegen – vor allem wenn man sich nicht sicher sein kann, wer das Gegenüber ist. Man versucht Konflikte zu vermeiden.

Keine Stunde Null

Anders als in Österreich nach dem Krieg gab es in Bosnien-Herzegowina keine Stunde Null: Die rassistischen Nationalisten, deren Politik in den 1990ern zu 100.000 Toten, hunderttausenden Vertriebenen, Folterungen, Vergewaltigungen und dreieinhalb Jahren Terror führten, sind weiterhin an der Macht und wollen diktieren, was gesagt und was eben nicht gesagt werden darf.

Hier gibt es dutzende Rechnitz, vor allem in Ostbosnien im Drina-Tal, wo 1992 viele Tausende ermordet wurden, nur weil sie muslimische Namen hatten. Jelinek’sche Sätze wie "Wir leugnen alles. Wenn Sie uns fragen, leugnen wir schon, bevor Sie die Frage fertiggestellt haben" wirken in diesem Kontext wie die Framingversuche heutiger Politiker, die sich von einem Abstreiten zur nächsten Lüge hinüberturnen und noch immer Menschen nach "Ethnien" geordnet trennen wollen, weil Rassisten eben essenziell nicht so sehr das Andere als das Gemischte verachten.

Vieles an Jelineks Text führt hier unweigerlich zu Assoziationen. Die ausgelassenen Partyszenen erinnern etwa an jenes Gelage von Polizeibeamten im serbischen Priboj Anfang Jänner dieses Jahres, bei dem zum Teil halb nackte Männer, Schnaps hinunterleerend, den Völkermord in Srebrenica priesen. Das Video wurde auf Facebook veröffentlicht: "Srebrenica, du bist mir so lieb", sangen die Polizisten.

Dem Sound treu bleiben

Den bosnischen Schauspielern kam Rechnitz von Anfang an "vertraut" vor. "Wir graben hier ja noch immer Gräber aus", meint Alispahić. Beim ersten Lesen verstehe man noch wenig, man müsse sich bei Jelinek in den Text hineingraben, meint sie im Gespräch. Für die Schauspielerin Jelena Kordić aus Mostar ist vor allem die Musik der Jelinek’schen Sprache zentral: "Es ging uns darum, dass wir ihrem Sound treu bleiben, aber trotzdem in unserer Sprache mit dem Publikum kommunizieren", erzählt sie.

"Ausgraben, eingraben, ausgraben, eingraben …", tragen die Boten in intensiven Chorszenen vor, was unweigerlich an die Massengräber im Drina-Tal oder in Prijedor erinnert, in denen oft nur ein paar Knochen eines Opfers gefunden werden, weil die Toten immer wieder ausgebaggert wurden, um die Verbrechen zu vertuschen. Spannend wäre angesichts dieser unheimlichen Parallelen, Rechnitz auch direkt zu den Orten des Verbrechens zu bringen. Eine Aufführung in Srebrenica ist geplant.

Gerade in Ostbosnien tun heute viele so, als könnte man die Geschichte aushandeln und so lange ummodeln, bis alle gleich schuld, alle gleichermaßen Opfer und Täter sind. "Wir stimmen die Geschichte mit uns ab", heißt es auch bei Jelinek. "Unsere Aussagen sollen ja stimmen, und sie sollen übereinstimmen." Am Freitag im SARTR-Theater folgte das Publikum gespannt und sehr aufmerksam solchen Sätzen.

Mit viel Rhythmusgefühl übte sich die Regisseurin in der Kunst des Weglassens. Mitterecker bringt in Sarajevo eine Fassung auf die Bühne, die in ihrer Dichte jene Spannung erzeugt, die das Fehlen klarer Rollenzuweisungen zu kompensieren hilft. Die wuchtigen Musikeinlagen schaffen Pausen zwischen den Dialogen der Boten und Botinnen, die flanierend zwischen einem Garderobenspiegel, einem Sofa und einem Kunststoff-Reh das Massenverbrechen umkreisen.

Am Ende verziehen sich die Boten wieder ins Publikum, aus dem sie hervorgetreten sind. "Mehr sage ich nicht", lautet der letzte Satz. Gerade in Bosnien-Herzegowina wirkt das wie eine Aufforderung, den Leugnern lauter entgegenzutreten. (Adelheid Wölfl aus Sarajevo, 21.2.2022)