Das Projekt hat am 100. Geburtstag der Widerstandskämpferin begonnen.

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Wegen ihres Widerstands gegen das nationalsozialistische Regime wurde Sophie Scholl 1943 ermordet. Heute erreicht sie auf Instagram mehr als 760.000 Menschen – zumindest in Form einer Inszenierung des Südwestrundfunks (SWR) und Bayerischen Rundfunks (BR). Anlässlich Scholls 100. Geburtstags erstellten diese einen Account namens @ichbinsophiescholl. Mit diesem sollen "User:innen emotional, radikal subjektiv und in nachempfundener Echtzeit an den letzten zehn Monaten ihres Lebens teilhaben" können. Das Projekt neigt sich nun dem Ende zu. Was kann man aus der multimedialen Zeitreise mitnehmen?

Die Nacherzählung beginnt am 4. Mai 1942, also an dem Tag, an dem Sophie Scholl für ihr Studium nach München aufbricht. Seither können ihre Erlebnisse in Form von Fotografien, historischen Dokumenten oder nachgestellten Videos mitverfolgt werden. Scholl selbst wird von der Schauspielerin Luna Wedler gespielt. Man sieht sie beim Schreiben von Texten für Flugblätter der Weißen Rose, erhält Einblick in ihre Gedanken, Sorgen und Hoffnungen.

Persönliche Reaktionen

Vielen Zuseherinnen und Zuseher scheint die Inszenierung so nahezugehen, dass sie in den Kommentarspalten ihre eigenen Gedanken ausdrücken, der fiktiven Scholl alles Gute für ihren Kampf gegen das NS-Regime wünschen – und sie jüngst sogar vor ihrer unmittelbar bevorstehenden Ermordung warnten.

Es überwiegen allerdings interessierte Nachfragen zu historischen Details zur Arbeit der Weißen Rose, zu Sophie Scholls Leben und zu ihr nahestehenden Menschen. Beantwortet werden diese teils aus Scholls Perspektive, teils durchbrechen die Account-Betreiber die vierte Wand und erklären Sachverhalte tiefergehend.

Um sicherzustellen, dass ihre Geschichte historisch akkurat nacherzählt wird, fand in Kooperation mit Expertinnen eine Recherche zu Scholls Leben statt. "Unser Kanal @ichbinsophiescholl ist Fiktion, orientiert sich allerdings an wahren Begebenheiten", legt der SWR offen. Historische Lücken oder Unklarheiten hätte das Team "kreativ und in Abstimmung mit den Expert:innen" geschlossen, um Scholls Leben zusammenhängend nacherzählen zu können.

Ich-Perspektive

Dabei nimmt man stets die Perspektive der Protagonistin ein, die Inszenierung findet "auf der Grundlage von historischen Biographien, Zeitzeugen-Dokumenten und vor allem: ihren Handschriften" statt. In Postings werden stets nur jene Informationen geteilt, von denen Scholl zum Zeitpunkt der Veröffentlichung – bzw. zu Lebzeiten – auch gewusst hat. Oder wie es die Betreiber beschreiben: "Stell dir vor, es ist 1942 auf Instagram."

Das Projekt hebt Scholls Leben also aus den Geschichtsbüchern, um ihre Erfahrungen im Widerstand und die nationalsozialistische Vergangenheit Deutschlands einem jüngeren Publikum zugänglich zu machen. Ob die Anreicherung historischer Fakten mit fiktiven Elementen problematisch ist, darf man natürlich diskutieren. Sieht man sich die Abonnentinnenzahlen an, aber auch die Reaktionen der Zuseherinnen und Zuseher an, scheinen die Initiatoren mit ihrem Vorhaben aber erfolgreich gewesen zu sein.

Nicht ohne Kritik

Kritik äußert der deutschen Satiriker Jan Böhmermann, der @ichbinsophiescholl eine ganze Ausgabe seines ZDF Magazin "Royale" widmet. In dieser wirft er auf, dass das Projekt zwar gut gemeint sei – in Wirklichkeit würde es allerdings Deutschlands Probleme im Umgang mit seiner NS-Vergangenheit aufzeigen: Die Menschen würden sich laut Böhmermann überwiegend entlasten wollen, anstatt sich mit den Millionen Ermordeten auseinanderzusetzen, zitiert ihn die "Frankfurter Rundschau". Statt die Gräueltaten in den Mittelpunkt zu stellen, würden positive Geschichten erzählt.

Auf Sophie Scholls Instagram-Account dürfte es in den kommenden Tagen jedenfalls ruhiger werden. Am 22. Februar 1943 wurden sie und ihr Bruder Hans Scholl wegen ihres Widerstands gegen das Naziregime zum Tode verurteilt und hingerichtet. (mick, 21.2.2022)