Der aus Südtirol stammende Designer Hannes Peer in seinem Mailänder Studio.
Foto: Hannes Peer, Helenio Barbetta – Living Inside

Das Atelier von Hannes Peer liegt in einer alten Mailänder Druckerei. Gedruckt wurde hier schon lange nicht mehr, zuletzt war in dem 200 Quadratmeter großen Industriebau ein Salon für "Massagetherapie" untergebracht. "Was genau das heißt, will ich gar nicht wissen", sagt der Architekt und lacht. "Am Anfang war es das pure Chaos, ein Labyrinth aus Wänden." Als der Architekt die Fläche mietete, um hier sein Studio einzurichten, sagten Freunde, er sei verrückt.

Doch Peer hatte genau das gesucht: einen Raum mit einem Vestibül, das gut einen Meter unter dem Rest des Studios liegt. Hier hat er ganz im Stil amerikanischer Modernisten ein "Conversation Pit" eingebaut: eine halbrunde Sitzgruppe – oder eher: Sitzgrube –, die mit kamelfarbenen Lederbänken ausgekleidet ist. Über ihr schwebt ein riesiger Glasluster.

Eine grau-grüne Marmortreppe führt in die Wohnwerkstatt, die in verschiedene Abschnitte gegliedert ist: Wohnzimmer, Werkstattbereich, Küche und Schlafzimmer. Die Böden sind mit glänzendem, ebenholzfarbenem Harz bedeckt. Über 50 Wände riss der Architekt ein, um die volle Tiefe des Raumes zu nutzen. Heute ist sein Atelier ein offenes, luftiges Studio – frei nach Adolf Loos von allem Unwesentlichen befreit.

Konfrontation verschiedener Stile

Mit seinen Oberlichtern und übergroßen Fenstern kommt es ein bisschen wie New Yorker Loftwohnungen aus den 80ern daher. Doch der Raum wirkt nicht kühl, im Gegenteil: Das Gegengewicht zur skulpturalen und strengen Architektur bildet eine eklektische Auswahl an Möbeln. Prototypen mischen sich zwischen brasilianische Siebziger-Sessel, dazu Leuchten von Ponti und Raumtrenner von Prouvé, durchsetzt mit afrikanischen Holzmasken, antiken Basreliefs und chinesischen Art-déco-Teppichen.

Zurück in die Zukunft: Interieur mit Möbeln und Luster von Hannes Peer, welches gestalterisch gekonnt das Gestern ins Heute holt.
Foto: Hannes Peer, Helenio Barbetta – Living Inside

Dieser Ort, den Peer als Architekturbüro, Tischlerwerkstatt und Malatelier nutzt, steht stellvertretend für seine Arbeit. Der Architekt, Dekorateur und Designer entwirft seit 30 Jahren Räume, deren Dynamik das Ergebnis der Konfrontation verschiedener Stile ist. Obwohl der Italiener sein eigenes Studio erst vor gut zehn Jahren gegründet hat, gehört er mittlerweile zu den gefragtesten Architekten des Landes und wird vom Magazin Architectural Digest jedes Jahr aufs Neue zu den besten Designern der Welt gezählt.

In seinen Interieurs mischt er Kitsch, Visionen, Nostalgie. "In meiner Arbeit glaube ich fest an die Utopie. Ich bin überzeugt, dass wir uns retten können, solange wir träumen und an etwas Größeres glauben."

Tiefenforschung

Wandtisch "Butterfly"
Foto: Hannes Peer, Helenio Barbetta – Living Inside

Hannes Peer wächst in einem 3000-Seelen-Dorf in den Traminer Weinbergen auf, studiert Architektur in Mailand und an der TU Berlin. Es folgen Stationen bei Rem Koolhaas in Rotterdam, bei Zvi Hecker in Berlin und bei kleineren Studios in Mailand, wo er viel über Inneneinrichtung lernt. "Heute sehen alle ihr Ego in der Architektur", sagt Peer. "Viel schöner ist es doch, einen Blick zurückzuwerfen und dort anzusetzen, beim Futurismus zum Beispiel."

Das Ergebnis dieser Tiefenforschung nennt er "nostalgische Utopie". Ein Blick zurück ins Was-wäre-wenn, das die Geschichte zwar respektiert, sie aber hie und da mit zeitgenössischen Elementen überlagert und so einen räumlichen Dialog zwischen Vergangenheit und Gegenwart schafft, bis nicht mehr ganz klar ist, wie die einzelnen Schichten in diesem Palimpsest aus Tradition und Moderne übereinanderliegen.

Gelernt hat er diese subtile wie respektvolle Schichtarbeit auch bei Rem Koolhaas. Der bläute ihm auch ein: dass Schönes ohne Hässliches nicht existieren kann: "When I say it’s ugly I don’t say it’s bad." Die Mode habe das sehr gut im Griff, sagt Peer, Demna Gvasalia und Virgil Abloh etwa. "Der hat sich ja auf ästhetische Raubzüge begeben. Da konnte man sehr viel lernen."

Peer arbeitet wie ein Dramaturg, der Räume orchestriert. Die Hauptdarsteller sind Seidenteppiche und oxidierte Metalle, gealterte Hölzer, strukturierte Oberflächen, üppige Texturen. Er kontrastiert Béton brut mit Lack, Antiquitäten mit eigenen Entwürfen, Neoklassizismus und Moderne. Bei der Arbeit helfen Peer nicht nur seine profunden Kenntnisse der Architekturgeschichte, sondern auch das Aufwachsen in einem Künstlerhaushalt (Peers Mutter ist die Bildhauerin Ursula Huber).

Esstisch "Butterfly": die Struktur soll an eine Brücke erinnern.
Foto: Hannes Peer, Helenio Barbetta – Living Inside

Wie eine Zeitreise

Kaum ein Gestalter schichtet Epochen so mühelos übereinander wie er. "Er weiß genau, wo er ansetzen muss", sagt der Modedesigner Valerio Leone. Für ihn und seine Frau, das Model Nastya Shershen, hat Peer in Mailand ein Apartment wie eine Zeitreise geschaffen: Das Schlafzimmer wirkt mit einem gestuften Teppich wie ein weicher Achtzigerjahretraum in Greige, Beige und Ecru; das Wohnzimmer strahlt mit einer Spiegelwand, Terrazzoboden und einer blasstürkisen Decke wie bei David Hockney die nostalgisch-mediterrane Heiterkeit der Siebziger aus, das Badezimmer erinnert mit seinen grafischen Elementen und dem grünen Verde-Antigua-Marmor an Piero Portalupis Entwürfe der Dreißiger.

Einem anderen Paar in Mailand erfüllte er den Wunsch nach einer Art städtischem Alpenchalet, mit Anklängen an die Villa Necchi und Georgia O’Keefes Sommerhaus in New Mexico.

Neugierige Nase

Sofa Muir, alles von "Sem" produziert
Foto: Hannes Peer, Helenio Barbetta – Living Inside

Peers Verweise auf die Vergangenheit sind nicht immer sofort ersichtlich, aber sie sind präzise recherchiert. Mit seiner Dichte an Farben und Mustern ist Hannes Peers Loblied auf den Eklektizismus aber auch ein Abgesang auf den grassierenden Minimalismus, den er oft für "Ideenlosigkeit" hält, dem alles Menschliche fehle.

"Häuser sollten von den Menschen erzählen, die in ihnen leben, von ihren Träumen, ihren Reisen." Er bewundere die Räumlichkeiten von Gabriella Crespi, Jean Cocteau oder Carlo Mollino. "Die haben hunderte persönliche Gegenstände gesammelt, und das macht die Schönheit und den Charakter ihrer Häuser aus." Die faszinierendsten Häuser, sagt er, seien das Ergebnis von Neugier.

"Ich finde es schrecklich, wenn Architekten die eigene Ästhetik über die Wünsche des Kunden stellen", sagt Peer. "Den Respekt, den man den Kunden zollt, sollte ebenso hoch sein wie die Ambition an die Architektur selbst." Wohl auch deshalb haben Peers Werke eine Wahrhaftigkeit, die in der Raumgestaltung heute nur noch selten zu finden ist. Eine Erklärung ist, dass der Architekt durchgehend selbst Hand anlegt. "Manche Kollegen finden das sehr eigenartig", sagt Peer, aber ihm gefalle "das Materische", aus dem man die Handfertigkeit herauslesen könne.

Stete Erinnerung

Hannes Peer
Foto: Hannes Peer, Helenio Barbetta – Living Inside

Das Tischlerhandwerk hat ihm der Großvater beigebracht. Für Peer sei das eine stete Erinnerung an seine Herkunft, aber auch daran, wohin der Weg noch führe. Viele Möbelstücke für Kunden entwirft er selbst. Zu seinen bekanntesten Entwürfen zählt die Konsole "Butterfly", die der Mailänder Hersteller SEM produziert.

Das Möbel ist eine Hommage an die organische, fast tänzelnde Struktur der Basento-Brücke in der süditalienischen Region Basilicata, vermischt mit einer eindrücklichen Tiefenwirkung durch eine in mehreren Lagen aufgetragene und gewolkte Keramik-Harz-Mischung. Sie lässt die Struktur in unzähligen Rottönen schimmern. Auf der letzten Mailänder Möbelwoche hat er einen dazu passenden Esstisch aus Walnuss vorgestellt, und eine Couch, deren Sitze um zwei Achsen drehbar sind, wobei die Polsterung fast in der Luft zu schweben scheint.

Außerdem eine monumentale Deckenleuchte aus 1000 in Murano hergestellten Gussglasschuppen in der Tradition italienischer Ausstellungskronleuchter wie jenem von Carlo Scarpa für die Weltausstellung 1961 in Turin. Für das französische Label La Chance entwarf Peer mehrere Hocker, die sich an der Arbeit des New Yorker Bildhauers Scott Burton orientieren und den Grat zwischen Möbel und Skulptur erkunden, und einen Esstisch aus gekreuzten Marmorplatten, der trotz seiner Masse leicht und grazil wirkt.

Nutzer im Blick

"Besonders bei den Sitzmöbeln haben wir uns auf das Praktische und Bequeme konzentriert", sagt Peer. Heißt: kein Design um der Gestaltung willen, sondern mit dem Nutzer im Blick. "Gerade jetzt sollten sich Designer nicht nur auf eskapistische Renderings konzentrieren, sondern zurückgehen auf richtiges Design, wie es in den Sechziger- und Siebzigerjahren propagiert wurde."

Sein Atelier- Appartement in Mailand. Die Liege stammt aus der Kollektion Marmini für La Chance Paris.
Foto: Amir Farzad

Sich vorstellen, wie die Menschen ein Objekt nutzen. Überlegen, mit welchem Material man arbeitet. Und in welchem Maße. Der "Butterfly"-Esstisch etwa sieht zwar aus wie Massivholz, es ist aber ein besonders dickes Furnier. Auch die Marmorhocker haben einen Kern aus Sperrholz. "Man muss sich anpassen. Niemand sollte heute noch Paläste aus Marmor bauen."

Viele Architekten hätten ein Problem mit dem Maßstab, sagt Peer. "Da gibt es keine Relation mehr zu Mensch und Raum." Dabei könne man diese doch in Mailand, dieser steingewordenen Architekturbibliothek, besonders gut beobachten. Hier lebten die goldenen Sechziger weiter, man begegnet Gio Ponti, Franco Albini, Piero Portaluppi jeden Tag. "Es ist leicht, sich davon einschüchtern zu lassen", sagt er. "Aber wir haben zwei Hände und noch wichtiger: einen Kopf!"

Imparare, Imparare, sagt er: lernen von den Perriands und Pontis dieser Welt. Das widerstandsfähigste Element in der Architektur, hat Giò Ponti schließlich mal gesagt, sei weder Zement noch Holz noch Stein noch Stahl noch Glas. Das widerstandsfähigste Element in der Architektur sei die Kunst. (Florian Siebeck, RONDO, 10.3.2022)