Im Grenzgebiet zwischen der Ukraine und Polen trifft man auf die Menschen hinter den Zahlen. Zunehmend schaffen es auch Älteren und Schwächere hinaus aus dem Kriegsgebiet.

Foto: Christopher Glanzl

Zweihundert Meter sind nichts im Vergleich zu dem, was sie hinter sich hat. Selbst wenn sie langsam geht, eigentlich humpelt. Zweihundert Meter noch durch diesen schmalen Korridor, Nato-Draht auf der einen, ein fünf Meter hoher Zaun auf der anderen Seite, dann hat diese kleine, alte Frau Polen erreicht. Ihren Kopf hat sie Richtung Boden geneigt, das Alter hat ihren Rücken gekrümmt. In der einen Hand trägt sie einen Plastiksack, in der anderen einen zusammengeklappten grünen Plastikhocker. Den Rest lässt sie hinter sich. Auch den Krieg.

Sie ist eine von 1,7 Millionen Menschen, die bislang aus der Ukraine fliehen mussten, weil ein größenwahnsinniger Machthaber ihr Land angriff. 13 Tage erst ist das her, seither sind mehr Menschen aus der Ukraine geflüchtet als im gesamten Jahr 2015 in der EU um Asyl ansuchten – dem Jahr, von dem es hieß, dass es sich nicht wiederholen dürfe. Die allermeisten aus der Ukraine kommen nun nach Polen.

Hier, im Grenzgebiet zwischen den beiden Ländern, bekommen diese Zahlen Gesichter. Hier trifft man auf Versorgung, die in Windeseile hochgezogen wurde, auf internationales Engagement und auf Helfer und Helferinnen, deren Gesichter ebenso müde sind wie die der Geflüchteten. Doch die Hilfsbereitschaft hat hässliche Begleiterscheinungen mitgebracht. Mit der Katastrophe in der Ukraine kommen auch Ungleichbehandlung und Vorurteile an die Grenze. Und: Da gibt es Hinweise auf schwere Verbrechen.

Kinder nach Italien

Noch vor dem Grenzübergang, eineinhalb Kilometer rein ins Landesinnere der Ukraine, da könnte man in einem Wirtshaus meinen, alles sei wie immer. Im Tisch am Eck sitzen Männer und starren in ihre Handys, auf einem anderen Tisch isst einer Suppe. "Hunter" steht über der Bar, an der Wand hängen Felle und ein Wildschweinkopf.

Wären da nicht die tausenden Leute, die den Gehsteig entlang gehen. Die allermeisten von ihnen sind Frauen, viele haben Kinder dabei, manche Haustiere, nur ganz vereinzelt trifft man auch auf junge Männer.

Er bringe seine Frau und sein Kind zur Grenze, sagt einer, die sollen nach Italien. Er selbst sei seit elf oder zwölf Stunden unterwegs, drehe aber gleich wieder um. Männern zwischen 18 und 60 Jahren ist es verboten auszureisen. Sie könnten jederzeit in den Krieg einberufen werden oder wurden es bereits. Das Gespräch mit dem Mann reißt ab, als dem noch jüngeren Mann neben ihm eine alte Frau in die Arme fällt. Die beiden haken sie rechts und links unter und gehen weiter. Die Temperatur liegt unter null Grad.

Ein Erstaufnahmezentrum in Przemyśl. Tausende Menschen kamen in den letzten Tagen hier an, sie erhalten Essen, Medizin und Decken.
Foto: Christopher Glanzl

Ukrainerinnen zuerst

Schon seit Tagen aber gibt es Berichte darüber, dass auch jene in der Ukraine bleiben müssen, die eigentlich das Recht hätten, auszureisen. Es geht vor allem um junge, nicht weiße Männer, die zum Studieren in die Ukraine gekommen sind und nun das Land verlassen wollen und rein rechtlich auch dürften. Fragt man den Vizebürgermeister des ukrainischen Grenzortes Schehyni, Mychailyshyn Rostyslaw Stepanowych, danach, dann scheint er das offen zuzugeben. "Er hat gesagt, wer keinen ukrainischen Pass hat, der darf nicht rüber", übersetzt die österreichische Nationalratsabgeordnete Ewa Ernst-Dziedzic (Grüne) das Gespräch. Auch sie macht sich einige Tage lang an der Grenze ein Bild von der Lage. "Außer die Kinder, da machen sie eine Ausnahme", übersetzt sie weiter.

Nach ihrer Heimkehr wird Ernst-Dziedzic sagen: "Wir in Österreich dürfen nicht die Augen verschließen und müssen vorbereitet sein, Menschen aufzunehmen – und keine Unterschiede nach Nationalität oder Herkunft machen." Schutz vor den Auswirkungen von Krieg und Gewalt sei ein Recht, kein Privileg. Und: Sie sei in Sorge, das den Helfenden in der Ukraine bald die Kraft ausgehe.

Von der ukrainischen Regierung wurden die Vorwürfe, man lasse Ausländer nicht über die Grenze, zuletzt abgestritten. Innenminister Anton Heraschenko sagte vergangene Woche laut Presse, man werde "alle Ausländer ungehindert freilassen". Er sagte aber auch: Man müsse zuerst Frauen und Kinder aus dem Land bringen. Vom Grenzschutz heißt es, eine von zehn Personen, die über die Grenze kommt, hätte eine ausländische Staatsbürgerschaft.

Benachteiligung auch auf polnischer Seite

Nichtukrainer haben aber – sofern sie es rüber schaffen – auch auf der anderen Seite der Grenze mit Problemen zu kämpfen. Manche in der Bevölkerung, so erzählt Ada Pluciennik, würden glauben, die seien weniger dankbar als die Ukrainer, sie würden etwa schwerer eine Unterkunft finden. Pluciennik koordiniert im polnischen Grenzort Narol die Freiwilligenhilfe. Gerade eben kam ein Laster an, polnische Frauen in Österreich haben ihn gefüllt, drei Dutzend Männer laden ihn nun wieder aus. In Narol, so erzählt Pluciennik, hätten sie nun auch eine Unterkuft für Studierende aus der Ukraine organisiert, die eine andere Staatsbürgerschaft haben.

Doch da gebe es noch andere, erzählt Pluciennik, ältere Männer, die zwar behaupten würden, sie seien Studenten, aber keinen Studierendenausweis dabei hätten, die nicht Ukrainisch sprechen würden. Die würden nun die Chance nutzen, über die Grenze zu kommen, nachdem sie zuvor an den EU-Grenzen festgesteckt seien, sagt sie. Während Pluciennik spricht, wird der Raum, in dem sie steht, mit Matratzen und Kinderwagen vollgestopft, mit Wasserflaschen und Babybrei.

Aus der ganzen Welt kommt die Hilfe an die Grenze. Während der Truck der polnischen Frauen unterwegs hierher war, kamen zwei Lastwagen der Volkshilfe Richtung Ukraine, sie schafften es bis ins Landesinnere nach Czernowitz. Und die österreichische Politik schickte nicht nur Lkws mit medizinischen Gütern nach Lwiw, sondern ist, weil es um "Nachbarn" geht, wie Bundeskanzler Karl Nehammer (ÖVP) das formuliert, auch bereit, Flüchtlinge aufzunehmen.

Auch die Volkshilfe samt Direktor Erich Fenninger brachte am Wochenende Hilfsgüter in die Ukraine. Fenninger kündigte weitere Transporte an.
Foto: Volkshilfe

Engagement aus aller Welt

Nicht nur Sachspenden, auch die Tatkraft, die sich nun an der Grenze sammelt, ist enorm. Egal, welchen Grenzübergang man anführt, da engagieren sich Pfadfinder, das Rote Kreuz und die Caritas, andere NGOs, und politische Organisationen oder Privatpersonen aus verschiedenen Ländern. Sie verteilen Suppe, bieten Fahrten an, sortieren Kleidung, übersetzen und koordinieren. Da trifft man Männer wie jenen Ukrainer, der seit Jahrzehnten in Deutschland lebt und nun Frauen und Kinder mit Bussen nach Deutschland bringt, bis er sich entscheidet, ob er doch selbst in den Krieg ziehen soll. Da trifft man auch Frauen wie jene junge Deutsche, die zum Erasmusstudium in Krakau ist und nun gar nicht weiß, wo sie anpacken soll, weil schon so viele Helferinnen und Helfer da sind.

Überhaupt: Ganz Polen ist blau-gelb – Anzeigetafeln an Busbahnhöfen, Neonschilder über der Autobahn leuchten in den Farben der Flagge des Nachbarlandes, Politiker stecken sich blau-gelbe Schleifen ans Revers und Autofahrer blau-gelbe Wimpeln hinter die Windschutzscheibe. Fast könnte man vergessen, dass an der Grenze zu Belarus ein Sperrgebiet verhängt wurde, in das in der Regel weder NGOs, noch Journalisten und Journalistinnen Zutritt haben. An der Grenze kam es laut Human Rights Watch zu illegalen Pushbacks und schweren Misshandlungen.

Angst vor Frauenhändlern

Weiter im Landesinneren von Polen, in Przemyśl, wurde in wenigen Tagen jener Ort aus dem Boden gestampft, an dem viele, die aus der Ukraine kommen, zum ersten Mal seit Tagen ein wenig Ruhe finden. Wobei Ruhe relativ ist. In dem ehemaligen Shoppingcenter, das zur Erstaufnahmestelle umfunktioniert wurde, herrscht organisiertes Chaos. Da weist ein Mädchen in gelber Warnweste den Weg, gleich ums Eck schlafen hinter Schaufenstern kleine Kinder auf dem Boden. Auch die Gänge sind rechts und links mit Matten, Matratzen und Decken gesäumt, Tausende liegen und sitzen hier. "Praha", schreit eine Stimme in einen Lautsprecher. Wer nach Prag will, stellt sich an.

1.064.700 Menschen und zahlreiche Haustiere mussten bereits nach Polen fliehen, alleine am Sonntag kamen 142.300.
Foto: Christopher Glanzl

Am Eingang eines Motorradladens klebt nun ein Zettel mit einem roten Kreuz drauf. Drinnen steht Udi Cohen, der mit einem Team von Medizinerinnen und Medizinern aus Israel herkam. Viele der Ankommenden seien traumatisiert und erschöpft, sagt er. Viele seien tagelang gegangen, gleichzeitig vollkommen gestresst, andere vom Krieg verwundet. Schon jetzt könne man nicht mehr alle versorgen – und die Zahl der Ankommenden werde sich noch vervielfachen.

Neben lebenswichtigen Medikamenten bekommen die Geflüchteten auch scheinbar simples, etwa Slipeinlagen oder Fußsohlenwärmer. Und noch etwas liegt hier auf: ein Flyer, der den Frauen mitgegeben wird. Da drauf heißt es auf Ukrainisch, Russisch und Englisch, dass man sich vor Menschenhändlern in Acht nehmen sollte. "Sie werden Sie an Orte bringen, die für Sie schädlich sein könnten", steht da.

Davon spricht gut 300 Kilometer entfernt auch der Bürgermeister von Kattowitz, Marcin Krupa. Man prüfe nun die Leute, die Unterkünfte anbieten, sehr genau, sagt er – gerade jene, die gezielt nur Frauen und Kinder aufnehmen würden. Ob und wie viele schon verschwunden sind, weiß allerdings niemand. (Gabriele Scherndl aus Medyka und Schehyni, 8.3.2022)