Nicht in allen Fragen gehen die EU-27 in dieselbe Richtung.

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Bis halb drei Uhr früh saßen die Staats- und Regierungschefs der EU in der Nacht auf Freitag im Spiegelsaal des Schlosses Versailles. Gastgeber Emmanuel Macron musste das Arbeitsessen stundenlang ausdehnen, so engagiert bis hitzig liefen die Debatten der 27 Staatenvertreter über die Maßnahmen, die man gegen Russland beziehungsweise für die Ukraine treffen wollte.

Erst dann hatte man sich einigermaßen sicher auf Kompromissformeln geeinigt, die all die unterschiedlichen Interessen der 27 auf einen Nenner brachten. Der französische Präsident konnte seine Kollegen ins Bett schicken. Um elf Uhr Mittag ging es im Mars-Salon des Schlosses weiter.

Die scharfe Erklärung zu Russland ist, wie berichtet, unbestritten. Moskau wird die volle Schuld an dem Angriffskrieg zugeschrieben. Was die Sanktionen betrifft, so ist unter den EU-Staaten vor allem die Frage der Energiesicherheit mit Unsicherheiten verbunden. Die USA und dann auch Großbritannien hatten ein totales Embargo auf Öl und zum Teil auch auf Erdgas verhängt, um Russland an der empfindlichsten Stelle zu treffen.

Abhängigkeit reduzieren

Für die Europäer ist ein Sofortstopp hingegen nicht ganz so einfach. 40 Prozent des Erdgasverbrauchs werden über Russland abgedeckt. Die Osteuropäer sind besonders stark von russischer Energie abhängig, etwa Ungarn oder Bulgarien. Ungarns Premier Viktor Orbán setzt zudem auf Atomkraftwerke russischer Bauart. Aber auch der deutsche Kanzler Olaf Scholz und sein österreichischer Amtskollege Karl Nehammer (ÖVP) traten auf die Bremse. "Wir werden nichts machen, was den Europäern schadet", erklärte Scholz.

Man wird sich am Freitag darauf einigen, dass die EU so rasch wie möglich die Abhängigkeit von russischem Gas (und auch Öl) reduziert: um zwei Drittel innerhalb eines Jahres, wie das Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen vorgeschlagen hat. Gleichzeitig soll der Umbau zu nachhaltiger Energie beschleunigt werden, möglicherweise mit noch mehr EU-Förderung.

Stärkere Beziehungen zur EU

Der zweite umstrittene Punkt ist der Wunsch des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj nach einem raschen EU-Beitritt seines Landes. Die meisten Osteuropäer unterstützen das, kämpften im Spiegelsaal um klare Worte dazu.

Aber Länder wie Deutschland, Frankreich oder die Niederlande sehen das als völlig illusorisch an. Man könne ein Land, das im Krieg ist, nicht in die Union aufnehmen, sagte Macron öffentlich, und er hat damit auch recht. Es gibt auf dem Westbalkan sechs beitrittswillige Staaten, mit vier davon wird seit zehn Jahren verhandelt. Auch Georgien und Moldau wollen in die EU.

Die Ukraine mit 44 Millionen Einwohnern würde den Beitrittsprozess sprengen, erfüllt zudem weder politisch noch wirtschaftlich die nötigen Voraussetzungen. Also wird man sich am Ende wohl darauf verständigen, dass die Ukraine für die EU ein wichtiges Land ist, zu dem die Beziehungen über den Assoziationsvertrag hinaus verstärkt werden sollen. Aber ein formeller Beitritt bleibt eine Illusion. (Thomas Mayer, 11.3.2022)