In ihrem Gastkommentar kritisieren die bildende Künstlerin Adriana Czernin und der Schriftsteller Franz Josef Czernin ein Interview des Übersetzers Alexander Nitzberg scharf.

Die russische Armee überfällt die Ukraine. Und was meint der russische Autor und Übersetzer Alexander Nitzberg in einem STANDARD-Interview: "Menschlichkeit soll das Handeln in beide Richtungen leiten." Ja, Menschlichkeit soll uns alle immer und überall in alle Richtungen leiten.

Angenommen, jemand, der jemanden überfällt, handelt unmenschlich. Handelt dann der Überfallene, der sich gegen den Überfall wehrt, ebenso unmenschlich wie der Angreifer? Eben das suggeriert Nitzberg mit seiner Forderung nach "Neutralität".

Bild nicht mehr verfügbar.

Illustration: Getty Images

Angenommen, jemand, der jemanden angreift, ist insofern unmoralisch: Ist deshalb auch der Überfallene gleichermaßen unmoralisch? Das suggeriert Nitzberg, wenn er behauptet, es wäre immer grundfalsch, zwischen den Guten und Bösen zu unterscheiden. Und wenn die Unterscheidung zwischen den Guten und den Bösen immer grundfalsch ist, ist dann nicht auch die Unterscheidung zwischen menschlichem und unmenschlichem Handeln und daher Nitzbergs eigene Forderung von Menschlichkeit grundfalsch?

Angenommen, ein Angreifer trägt Schuld daran, dass er angreift. Trägt dann der Angegriffene auch Schuld daran, dass er angegriffen wird? Auch das suggeriert Nitzberg mit seiner Forderung nach Neutralität.

Keine Distanz

Angenommen, weder Russland noch die Ukraine haben an dem Krieg Schuld, sondern nur "unterschiedliche Kräfte, deren Spielball die Völker sind". Dann wären weder der Angreifer noch der Angegriffene an dem Krieg schuld, sondern eben jene Kräfte und, nach Nitzberg, vor allem die USA. Widerlegt dann aber Nitzberg mit dieser seiner Schuldzuschreibung nicht gerade seine eigene Forderung nach Neutralität?

Nein, keine Neutralität. Nein, keine Distanz. Es gibt einen klaren Aggressor, und er muss klar benannt werden. Das sind Wladimir Putin und all diejenigen, die ihn unterstützen. Sie führen einen Krieg, der durch nichts gerechtfertigt werden kann. Keine "intellektuelle" oder sonstige Ambivalenz! Das ist nicht das Russland von Puschkin und Tolstoi, sondern das Russland des Diktators Putin. Das ist nicht die Verteidigung des russischen Volkes, das ist der Krieg eines Diktators gegen die Ukraine und daher auch gegen die freie, zivilisierte und demokratische Welt. Und wer in dieser Welt lebt, sollte sie auch zu schätzen wissen und Position beziehen.

"Wie soll man neutral bleiben, wenn ein autokratisches System seine Bevölkerung seit Jahren manipuliert?"

Wie soll man neutral bleiben, wenn Menschen getötet werden? Wie soll man neutral bleiben, wenn Städte zerstört werden? Wie soll man neutral bleiben, wenn Frauen und Kinder fliehen? Wie soll man neutral bleiben, wenn Familien getrennt werden, ohne zu wissen, ob sie je wieder zueinander finden werden? Wie soll man neutral bleiben, wenn junge Männer, die nie eine Waffe getragen haben, in den Krieg ziehen? Wie soll man neutral bleiben, wenn weiterhin Raketen abgefeuert werden? Wie soll man neutral bleiben, wenn tausende Menschen in Russland verhaftet werden, nur weil sie für den Frieden auf die Straße gehen? Wie soll man neutral bleiben, wenn andersdenkende Menschen in Russland um ihr Leben fürchten müssen und zur Flucht gezwungen werden? Wie soll man neutral bleiben, wenn ein autokratisches System seine Bevölkerung seit Jahren manipuliert? Wie soll man neutral bleiben, wenn in dem Land von Dostojewski der Gebrauch des Wortes Krieg mit fünfzehnjähriger Lagerhaft bestraft wird? Wie soll man neutral bleiben, wenn ein Diktator ganz Europa mit der Atombombe bedroht? Ja, das ist einseitig; ja, das kann in manchen Ohren hysterisch klingen; ja, das ist nicht tolerant; ja, das ist vielleicht vor allem distanzlose Verzweiflung.

Was Ambivalenz in der Kunst bedeutet und wie wichtig sie ist, glauben wir zu wissen. Aber wir wissen auch, wie wichtig Entscheidungen für das Hervorbringen von Kunstwerken sind.

Es ist Krieg. Es ist Zeit, Entscheidungen zu treffen. (Adriana Czernin, Franz Josef Czernin, 13.3.2022)