Nach dem Zusammenbruch des schönen Scheins: Linda (Beatrix Doderer) im feministischen Generationenkonflikt mit den Töchtern Bridget (Iman Tekle) und Alice (Daria von Loewenich).

Foto: Lex Karelly

Sichtbarkeit für Frauen über 50 schaffen, das will Linda, Marketingmanagerin einer Kosmetikfirma. "Visibility" soll ihr neuer Marketingcoup heißen. Einst wollte sie jungen Frauen das Gefühl geben, ungeachtet aller Makel schön zu sein. Jetzt kämpft sie als scheinbar einzige Idealistin in ihrem oberflächlichen, auf Umsatz schielenden Konzern dafür, dass Frauen nicht mehr aufgrund einer Zahl plötzlich aus der öffentlichen Wahrnehmung verschwinden: Werbung mit ihnen gebe es nur für Slipeinlagen.

Linda (Beatrix Doderer) hat schon einige Preise bekommen, ist verheiratet, hat zwei Töchter, passt noch in Kleider von vor 15 Jahren. Dass sie schon zum alten Eisen gehören könnte, scheint ihr unwahrscheinlich. Sie fühlt sich unbesiegbar, glücklich, stark in ihren Hosenanzügen in Signalfarben und mit den offenen blonden Haaren. Dann beginnt alles zu bröckeln in Penelope Skinners Stück. Das Konzept der halb so alten, von Statistiken statt Visionen getriebenen Kollegin (Sarah Sophia Meyer) sticht Lindas aus.

Seit Freitag ist Linda im Schauspielhaus Graz zu sehen. Ein Bandprobenraum, eine große Wohnküche, das Töchterschlafzimmer und Lindas Büro sind dort zwischen hohen weißen Wänden nebeneinander auf die Drehbühne (Christin Treunert) gepackt. Geradezu filmisch flott wechseln die Szenen. Dominique Schnizers zweieinhalbstündige Inszenierung entspricht dieser realistischen Ausstattung.

Stinktier aus Protest

Oder anders gesagt: So konventionell wie die cool und clean gemeinte Ästhetik sind auch die Gedanken des Abends. Er fasst in hoher Schlagzahl viel aller Ehren Wertes zusammen, der Schönheitskapitalismus macht nur den Anfang. Alice, die in einem Stinktierkostüm umherschlurft, wurde als Schülerin von ihrem Freund nackt fotografiert und nach Öffentlichwerden der Aufnahmen gemobbt. Seit diesem Victim-Blaming will sie (Daria von Loewenich) für Männer unsichtbar sein. Stieftochter Bridget (Iman Tekle) will Schauspielerin werden, aber es gibt keine guten Monologe für Frauen in der klassischen Literatur!

So wächst zwischen Mutter und Töchtern ein feministischer Generationenkonflikt: Bei aller "Visibility" spielt Linda nämlich das Spiel der Männer mit, um erfolgreich zu sein. So etwas wollen die Töchter nicht mehr. Zu allem Überdruss schläft Lindas Mann (Franz Solar) noch mit seiner jungen Bandkollegin.

Geliefert wird gut gemeinte gedankliche und szenische Mittellage mit einigem Humor. Die etwas verpeilte Büroaushilfe Luke (Lukas Walcher) bezirzt seine Kolleginnen mit einer natürlichen Lässigkeit. Letztlich fehlt es dem zu brav sich dahinschiebenden Abend an Biss. Er bietet etwas viel Filmkomödie und zu wenig Sturm auf die Barrikaden. (Michael Wurmitzer, 14.3.2022)