Wahrscheinlich waren die Endlostelefonate mit Wladimir Putin und die langen Arbeitstage im Élysée-Palast schuld. Gestärkte Hemden und schmale Sakkos werden unter diesen Bedingungen zum Folterinstrument. Selbst für einen französischen Präsidenten, der es gewohnt ist, in Schlips und Kragen Contenance zu wahren. Also beschloss der übermüdete Emmanuel Macron, sich von einer anderen, einer nahbaren Seite zu zeigen.

Ich habe kaum Zeit für eine ordentliche Rasur, ich komme nicht mehr raus aus dem Büro. Hänge ich in Wahrheit nicht 24 Stunden im Kapuzenpullover im Élysée-Palast herum? Es wird Zeit, dass Frankreich und die Welt realistische Bilder von ihrem Staatsoberhaupt sehen! Die Gedankengänge Macrons lassen sich leicht rekonstruieren. Sein Auftrag an die Hoffotografin auch: "Soazig, kannst du das bitte fotografisch festhalten? Und dann raus damit auf Twitter und auf Instagram – wir sind nicht nur im Krieg, sondern auch im Wahlkampf!"

Soazig de la Moissonnière, seit fünf Jahren die offizielle Fotografin des Präsidenten, verstand natürlich. Die beiden sind Profis und ein eingeschworenes Team. Gemeinsam haben sie schon 2016 Macrons Kampagnen konzipiert. De la Moissonnière griff also am Sonntag (der Präsident arbeitet auch am Wochenende!) zur Kamera und hielt ihren unrasierten Chef in Jeans und dunklem Hoodie mit einem aufgestickten Logo der französischen Luftwaffe fest: "CPA 10" prangt auf seiner linken Brust, die Abkürzung steht für "Commando Parachutiste de l'Air no 10".

Soazig De La Moissonnière / Instagram

Man könnte sagen: Macron sah aus wie ein strubbeliger Nerd, der sich aus der IT-Abteilung ins Büro des Präsidenten verirrt hat. Die Inszenierung im prunkvollen Ambiente des Salon Doré wirkte außerdem wie ein Stilbruch à la Sofia Coppola. Die Regisseurin hatte Kirsten Dunst in ihrer "Marie Antoinette"-Verfilmung in Sneakern durch Schloss Versailles laufen lassen. Solche Assoziationen wird der Franzose nicht im Sinn gehabt haben. Dann doch eher: Emmanuel Macron lässt sich als Staatsmann inszenieren, der sich für sein Volk aufreibt und auf beiläufige Art Macht demonstriert.

Selenskyj in khakifarbenen Shirts

Wolodymyr Selenskyj hat am 24. Februar den Anzug abgelegt. Seither trägt er khakifarbene T-Shirts und Westen.
Foto: IMAGO/Ukrinform

Das Vorbild für die neue Inszenierung des französischen Präsidenten? Ganz sicher nicht Olaf Scholz, der zuletzt im Schlabberpulli Interviews gab. Dann doch eher der heldenhafte Kollege aus der Ukraine. Wolodymyr Selenskyj hat seine Anzüge am 24. Februar, dem Tag des Einmarschs Russlands, abgelegt. Seither haben sich seine Auftritte grundlegend geändert. Selenskyj hat sich den Bart stehen lassen, er veröffentlicht Videos in khakifarbenen T-Shirts und Hoodies. Der Politiker vermittelt der Welt: Ich bleibe hier, ich verteidige mein Land.

Der gelernte Schauspieler und Komiker weiß, wie man Botschaften Social-Media-gerecht aufbereitet. Und er zieht sie trotz der lebensgefährlichen Situation, in der er sich in Kiew befindet, durch. So ist Selenskyj innerhalb kürzester Zeit inmitten des Krieges zu einer Art Popstar geworden.

Auch früher ähnelten sich die Auftritte Wolodymyr Selenskyjs und Emmanuel Macrons.
Foto: imago images/ITAR-TASS

Dagegen wirkten die Anzüge des französischen Premiers mit einem Schlag so langweilig wie vorgestrig. Seit seinem Regierungsantritt gibt sich Emmanuel Macron neben Ehefrau Brigitte, die gern in Louis Vuitton auftritt, volksnah. Er trägt Anzüge von der Stange, gerne Modelle des französischen Unternehmens Jonas & Cie, sie kosten zwischen 340 und 380 Euro. Keine Selbstverständlichkeit für einen, der zuvor Exklusiveres gewohnt war. Als Banker hatte Macron noch bei Lagonda, einem Pariser Schneider, Nadelstreifenanzüge für 800 bis 1.200 Euro geordert.

Der Hoodie, ein Stilbruch oder gar eine Zeitenwende in der Selbstdarstellung des Emmanuel Macron? Die Reaktionen auf den Kapuzenpullover fielen bislang gemischt aus. Wen wundert das, wenn die Authentizität zu wünschen übrig lässt. Am Montag trat der Präsident im französischen Fernsehen übrigens wieder glattrasiert im Anzug auf. Höchstwahrscheinlich war der Hoodie nicht mehr als eine Laune. (feld, 15.3.2022)