Elizabeth Haigh war gerade einmal 28, als ihr Restaurant Pidgin in London einen Michelin-Stern verliehen bekam. Der Guardian beschrieb Haigh als Shootingstar, 2019 eröffnete sie ein Lokal im angesagten Borough Market, im Mai 2021 veröffentlichte sie ihr erstes Kochbuch mit Rezepten "aus dem Herzen Singapurs". Haigh wurde in Singapur geboren, wuchs in England auf, aber ihre Rezepte seien "mehrere Generationen in ihrer Familie durchgereicht" worden. Dass dem nicht so war, kam fünf Monate später ans Licht. Lesern war aufgefallen, dass Rezepte und Anekdoten einem älteren Kochbuch manchmal bis aufs Wort glichen. Haighs Makan enthielt Absätze aus Sharon Wees Growing up in a Nonya Kitchen; sogar von einer Gewürzwebsite hatte sie abgeschrieben. Der Verlag nahm das Buch vom Markt – allerdings wohl nicht, weil die Rezepte kopiert waren, sondern weil Beschreibungen von Land und Leuten zu ähnlich waren. Literarische Texte sind – anders als Rezepte – durchaus durch das Urheberrecht geschützt. Eine Zutatenliste und eine bloße Anleitung kann man sich nicht schützen lassen.

Ideenklau im Kochmilieu: Die gehypte Jungköchin Elizabeth Haigh hatte dreist bei der Kochbuchautorin Sharon Wee abgeschrieben.

Kopisten der Lemon-Tart

Dass niemand ein Rezept als sein geistiges Eigentum beanspruchen kann, ist einerseits natürlich gut. Was wäre das für eine Welt, in der nur ein Mensch Urheber des Palatschinkenrezepts wäre? Eben. Andererseits ist eine Palatschinke mit Nutella eben auch kein "Octopus and the Coral" von Virgilio Martínez. Bestimmte Gerichte haben eben schon eine gewisse "Schöpfungshöhe". Sollten sich Tim Raue seinen berühmten Kaisergranat mit Wasabi und Massimo Bottura sein "Oops, I Dropped the Lemon Tart" sichern lassen können? Auch durch Haighs Rezeptbuchplagiat nahm die Debatte Fahrt auf, ob und wie man welche Rezepte in Zukunft vor Kopisten schützen lassen könnte; besonders im englischsprachigen Raum, wo sich mit Rezept büchern viel Geld verdienen lässt.

Rezepte wurden schon immer weitergegeben: von Lagerfeuer zu Lagerfeuer, von Nachbarin zu Nachbarin, von Mutter zu Tochter. Dass man ein Rezept mit der Welt teilen kann, haben Radio und TV ermöglicht und das Internet sowie Social Media beschleunigt. Heute kann jeder Alfred Biolek sein, jeder kann aus seiner Küche senden. Nicht wenige tun das. Und manche Rezepte werden ein viraler Hit. Penne alla Wodka kennen viele nur mehr als Gigi-Hadid-Pasta, weil das Supermodel die Anleitung gepostet hat. In Finnland wurde 2021 der Feta knapp, als ein Tomaten-Feta-Nudel-One-Pot-Gericht der absolute Hit auf Tiktok war. Die Frage, wem ein Rezept gehört, wird damit relevanter.

Das Pinzenrezept von Kochbuchautorin Katharina Seiser ist das wohl am meisten geteilte. Sie stört das wenig:
"Ich will Türen zu anderen Küchen aufstoßen."
Foto: Heribert Corn

Wie steht es in Österreich um den Rezeptklau? Zu Ostern 2020 ging eine Pinze viral. Kochbuchautorin Katharina Seiser (47) saß Jahre zuvor mit Papier, Bleistift und Handy taschenrechner da, hat ein Dutzend historische Kochbücher verglichen, Charts mit Zutaten angelegt, die Ratio berechnet, überlegt, wie sie Teig und Geschmack gerne hätte und ein Best-of-Rezept erarbeitet, das einfach funktioniert. Das stellte sie zum Nachbacken online, viele teilten es. "Die einen haben vorher gefragt und mich genannt. Andere haben nicht vorher gefragt, mich genannt. Dann gab es die, die mich nicht verlinkten und nichts veränderten, und jene, die mich nicht verlinkten und pro forma eine Kleinigkeit veränderten", so Seiser. Sie schreibt in ihren Büchern immer dazu, woher die Inspiration kommt. Durch ihre Kochbuchbibliothek sieht sie, wie oft kopiert wird. Selten könne man es so eindeutig nachvollziehen wie bei dem aufwendigen Backrezept, das ihr immer wieder unterkommt. "Alle, die backen, wissen, dass 30 Gramm Kakao nicht wenig sind. Aber 300 Gramm Kakao?" Immer, wenn sie das Rezept mit dem abgepausten Dezimalfehler liest, muss sie "schmunzeln".

Rote Bete für alle

Blöd ist auch, wenn der Koch weltbekannt ist. In Nigel Slaters Tender erschien 2009 ein Schokoladen-Rote-Bete-Kuchen, ein verblüffender Ansatz für einen süßen Kuchen. In Essen und Trinken erschien 2011 ein "Schoko-Rote-Bete-Kuchen"-Rezept ohne Hinweis auf den britischen Koch, vielen fachkundigen Lesern gefiel das nicht. Und in der Spitzengastronomie? "Meine Rezepte werden ständig gefladert. Meine Freunde schicken mir dann Fotos davon", sagt Lukas Mraz, der sicherlich interessanteste Koch Österreichs. Mraz (31) ist ein Vordenker, er kocht nie Dagewesenes: ein Tonka tsu vom Sauschädel, Eismarillenkrapfen mit Sichuanpfefferzucker oder Blutwurstpizza. Sein "Enoki Cacio e Pepe" – ein unverwechselbares Gericht mit einem japanischen Pilz – wurde von einem Kollegen "auch noch in der eigenen Stadt" nachgeahmt. "Das haben mir urviele Leute geschickt", so Mraz. Auch die weltbekannte luxemburgische Köchin Léa Linster (66) sagt: "Es hat tatsächlich mal jemand für die Teilnahme an einem Wettbewerb den Lammrücken in Kartoffelkruste aus meinem Bocuse-d’Or-Menu kopiert. Derjenige meinte, das Ganze würde auch mit Kaninchen funktionieren. Allerdings wenig erfolgreich. Ein Gericht ist ein Gesamtkonzept an Geschmäckern und Texturen. Nichts wird außergewöhnlich, nur weil man es in eine Kartoffel wickelt."

Petersilie als Unterschied

Um neuartige Gerichte zu entwickeln, investieren die Restaurants. Es gibt den Beruf des Development-Chefs, der experimentiert, um Signature-Dishes zu kreieren. Yotam Otto lenghi hat eine Test-Kitchen, und Mraz entwickelt 20 Stunden die Woche neue Gerichte. Im Mraz und Sohn notiert er in seiner "Sauklaue" Garzeiten, Grade, Grammzahlen in sein "DIN-A4-Hefterl", während er kocht. Abends überträgt er das Rezept in ein Excel-Sheet und druckt es aus. Solche kreativen Einzelleistungen einfach nachzuahmen, eine Petersilie draufzusetzen und als eigene Idee auszugeben? Schofelig, aber bislang so gut wie nicht justiziabel. "Geil ist auch, Rezepte von jemand anderem zu nehmen." Er habe das "neulich mal gemacht", ohne den Originalkoch zu nennen, sagte Steffen Henssler im TV.

Das Chefkoch-Magazin, Auflage 70.000, nutzt den Umstand, dass die Rezepte frei sind. Das Magazin, das es auch in Österreich zu kaufen gibt, nimmt beliebte Rezepte von chefkoch.de, fragt die User um Erlaubnis, steckt Mühe in die Inszenierung und druckt die Rezepte. Zum Dank bekommen die User ein Heft. Bei all den Rezepten sei es "natürlich nicht wirklich möglich, die Originalität zu überprüfen", sagt Redaktionsleiterin Sandra Prill. Wie man hört, soll es schon vorgekommen sein, dass eine Köchin beim Fotoshooting feststellte, dass das User-Rezept einem von ihr vor Jahren entwickelten Rezept für einen markanten Kuchen mit Marzipan und Mohn recht ähnelte, nahm es aber mit Humor.

Seiser mache es "rasend", wenn sie "eine Prise" Salz lese, viel zu ungenau. Mraz wirkt wie ein Freigeist mit Punkseele, der statt seiner zwei Michelin-Sternen lieber tanzende Gurken auf der Restaurantwebsite präsentiert. Dennoch kommen beide zum selben Schluss: Jeder blamiert sich, so gut er kann – und wenn ein Profikoch meint, Rezepte von Kollegen abschauen zu müssen, ohne die Quelle zu nennen, nimmt man es zur Kenntnis, ignoriert es und denkt sich seinen Teil.

"Ich finde es für die Leserinnen wichtig, eine Referenz zu setzen. Ich möchte Türen zu anderen Küchen aufstoßen", sagt Seiser. "Ich will, dass sich die Küche schnell weiterent wickeln kann. Alle meine Köche bekommen die Rezepte, die sie auch fotografieren dürfen", sagt Mraz. "Ich halte nichts davon, dass man die Rechtslage ändert. Das würde die Freiheit und Kreativität arg einschränken. Und so hat sich die Esskultur ja entwickelt, dass jemand vor 200 Jahren wo hingefahren ist und etwas Neues mitgebracht hat. Es wäre schlimm, bei jedem Gericht Angst vor einer Klage haben zu müssen." Von Geheimniskrämerei hält er nichts. "Es gibt sogar Kochbücher, in denen Köche ihre Angaben extra falsch machen oder Zutaten verschweigen, damit die Rezepte keiner kopieren kann. Ich kenne solche Koch bücher, kein Scherz", so Mraz.

Allerweltsgericht als Plagiat

Wer wie Seiser 2000 Kochbücher besitzt, hat einen guten Kompass dafür, wie originell ein Rezept überhaupt sein kann. Oder, wie Mraz sagt: "Die Sonne scheint auf nichts Neues." Einmal wurde ein australischer Koch für eine raffinierte Idee hoch gelobt – die Mraz zuvor hatte. "Der Koch in Australien kennt mich sicher nicht, der hatte einfach die gleiche Idee." Léa Linster formuliert es so: "An sich wäre das natürlich eine schöne Idee" mit dem Urheberrecht für Rezepte, "dann würde bei mir immer die Kasse klingeln, wenn jemand mein Lamm serviert". Aber das mit dem Urheberrecht auf Rezepte werde wohl nicht so funktionieren wie in der Musik, so Linster. "Wobei sie eines gemeinsam haben: Klassiker werden am Leben gehalten, indem sie oft gecovert werden." Ein vielfach erprobtes Rezept sei ein Kulturgut und ein Beitrag dazu, unsere Esskultur zu pflegen und zu erhalten. "Jeder, dem in diesem Sinn eine gute Kopie gelingt, ist mir sehr willkommen", sagt Linster.

Das "Enoki Cacio e Pepe" von Sternekoch Lukas Mraz wurde von einem anderen Wiener Koch kopiert. "Denkst da halt deinen Teil", sagt er.
Foto: Jeff Mangione / KURIER / picture

In der Welt der Profiköche mit Dauerstress hat niemand Zeit für langwierige Klagen. Und während prämierte Köche ihre Kreativ leistung nicht überschätzen, streiten derweil Kochinfluencer Stefano Zarrella und Youtuberin Healthy Mandy über Plagiate ihrer Allerweltsgerichte. An der renommierten Kochschule Le Cordon Bleu in Paris wird gelehrt, man müsse "sechs Elemente eines Rezepts" ändern, damit es als neu gilt, erzählte kürzlich eine Köchin der New York Times. Allerdings, sagt Seiser: "Die Demarkationslinie verläuft meiner Meinung nicht zwischen Online und Print. Ich kenne sehr sorgfältige Bloggerinnen und schlampige Kochbücher."

In Österreich ist die Demarkationslinie die Marmelade. Beim Schutz der Sachertorte war eine essenzielle Frage: Hat die Originaltorte eine oder zwei Marmeladenschichten? Denn auch, wenn man sich ein Rezept nicht schützen lassen kann, kann man sich unter gewissen Bedingungen doch ein Gericht als Marke schützen. Dann kann man zwar immer noch niemandem verbieten, zu Hause eine Sachertorte zu backen. Aber dass jemand eine solche als "Sachertorte" verkauft.

"Es gibt auch Bildmarken – da schützt man sich ein spezifisches Aussehen eines Gerichtes", sagt Rechtsanwältin Katharina Braun. Allerdings nur, wenn das "auch wirklich Unterscheidungskraft" hat, "Spaghetti mit Tomatensauce kann man sich nicht sichern". Auch das Wettbewerbsrecht kann helfen, um Trittbrettfahrer abzuschütteln. "Auch da muss man ganz genau nachweisen, dass es sich um eine Kopie handelt. Man kann nicht sagen: Der Kollege nebenan hat auch Nudeln im Angebot", so Braun. Aber wenn der Mit bewerber etwa eine Dinner-and-Crime-Veranstaltung abkupfere und die gleiche Menüfolge habe, nur etwas günstiger, dann könne man dagegen vorgehen, so Braun.

Mancher Rezeptklau kann auch strafrechtlich relevant werden. "Wenn ein Mitarbeiter ein Geheimrezept vorsätzlich ausplaudert, ist das der Verrat eines Betriebsgeheimnisses – eine Straftat. Das kann Unternehmen ruinieren." Rechtliche Details über das Kochbuchdesaster von Haigh sind nicht bekannt. In der Branche üblich sind aber Verträge, die Autoren verpflichten, eigene Inhalte abzuliefern. Wird diese Klausel nicht eingehalten, kann der Verlag vom Autoren Schadensersatz fordern. Braucht es nun einen Rezeptschutz? Katharina Braun sieht es so: "Grundsätzlich ist das Urheberrecht dazu da, neuartige Schöpfungen zu schützen. Eine Rosine auf einem Guglhupf zähle ich da nicht dazu." (Nora Reinhardt, 19.3.2022)