"Der kleine innere Zirkel um Putin teilt dessen revisionistische Ideologie im Hinblick auf die Ukraine", sagt der Politikwissenschafter Gerhard Mangott.

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Vor einem Monat hat die russische Armee die Ukraine angegriffen. Seither gibt es täglich neue Berichte über Kampfhandlungen, Sanktionen des Westens und Gespräche zwischen Russland und der Ukraine. Ein baldiger Frieden scheint aber nicht in Aussicht. All das wirft viele Fragen auf.

Die Politikwissenschafter Gerhard Mangott, Martin Senn, Berthold Rittberger, Jessica Fortin-Rittberger sowie der Verfassungsrechtler Peter Bußjäger und die Religionssoziologin Kristina Stoeckl beantworten ausgewählte Fragen der STANDARD-Community zur Motivation Putins, zu möglichen Nachfolgern, zur Demografie Russlands und zur Neutralität Österreichs.

Gerhard Mangott: Die mögliche Gefährdung Russlands durch die Stationierung von offensiven Waffensystemen in der Ukraine nach deren Nato-Beitritt ist sicherlich nicht unbedeutend. Im Vordergrund steht aber eine revisionistische Ideologie, die die Ukraine zurück in die "russische Welt", in das "historische Russland" aus Russen, Belarussen und Ukrainer führen will. Die Gefährdung durch eine demokratische und prosperierende Ukraine für Putins Russland spielt nur eine mittelfristige Rolle – denn davon ist die Ukraine heute schon noch ein Stück weit entfernt.

Gerhard Mangott: Unerlässlich sind sicher ein demilitarisierter neutraler Status der Ukraine und die Anerkennung der Unabhängigkeit der Volksrepubliken Donezk und Lugansk in den ehemaligen Provinzgrenzen. Die Anerkennung der Zugehörigkeit der Krim zu Russland ist verhandelbar. Ich zweifle aber, ob Russland die eroberten Gebiete an der Schwarzmeerküste wieder räumen wird.

Gerhard Mangott: Ich rechne damit, dass die russischen Streitkräfte versuchen werden, Odessa und das Gebiet bis zu Transnistrien zu erobern. Dann wäre nicht nur eine Verbindung mit der prorussischen Regierung Transnistriens hergestellt, sondern die Ukraine gänzlich vom Zugang zum Schwarzen Meer abgeschnitten und würde zum Binnenstaat werden.
Mit Belarus zu verhandeln wäre eine theoretisch denkbare Option, ist aber praktisch ausgeschlossen.

Gerhard Mangott: Der kleine innere Zirkel um Putin teilt dessen revisionistische Ideologie im Hinblick auf die Ukraine. Wenn Putin gestürzt würde, ist nicht auszuschließen, dass die Situation außer Kontrolle gerät und der innere Kreis selbst die Macht verliert. Möglich ist auch, dass eine noch radikalere Figur die Führung Russlands übernehmen würde.

Gerhard Mangott: Eine Kriegsniederlage könnte Putin tatsächlich in Bedrängnis bringen. Daher glaube ich auch, dass Putin militärisch nichts unversucht lassen wird, den Krieg zu gewinnen. Auch wenn das weitere militärische Eskalation, Bestialisierung und Brutalisierung des Krieges erfordert.
Ich teile nicht die Ansicht, die Russen wären gleichsam unfähig, Demokratie aufzubauen. Demokratie ist auch in Russland möglich – wohl aber nicht in absehbarer Zeit.

Kristina Stoeckl: Es wird geschätzt, dass bisher circa 250.000 Personen Russland verlassen haben. Russland hat eine Bevölkerung von 144 Millionen. Der überwiegende Teil der Bevölkerung kann das Land gar nicht verlassen. Um eine Auswanderung überhaupt in Betracht zu ziehen, braucht es Sprachkenntnisse, berufliche Fähigkeiten und finanzielle Mittel. Und selbst wenn diese drei Dinge vorhanden sind, gibt es viele Gründe zu bleiben: Betreuung der Eltern, die eigene Wohnung, die man nicht verlieren will, der Beruf ...

Ein demografischer Kollaps steht Russland mit Sicherheit nicht bevor, einer im Bereich Technologie und Innovation aber vielleicht schon: Viele gut Ausgebildete verlassen das Land. Masha Gessen, russische politische Aktivistin und Autorin, die seit vielen Jahren in den USA lebt, hat über diese Flucht der Eliten aus Russland einen lesenswerten Beitrag im "New Yorker" geschrieben.

Es ist außerdem gar nicht so einfach, sich im Ausland niederzulassen. Ohne Schengen-Visum stehen nicht viele Länder offen, aktuell sind es vor allem Georgien, Armenien und die Türkei, die Russinnen und Russen aufnehmen.

Gerhard Mangott: Eine Rechtsgrundlage müsste der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen schaffen. Das wird nicht gelingen, weil Russland einen derartigen Beschluss mit einem Veto belegen würde. Eine solche "Sicherheitszone" müsste daher militärisch durchgesetzt werden. Wenn die Nato das tun würde, würde sie Russland sicher als Kriegspartei ansehen, und der militärische Konflikt würde eskalieren.

Berthold Rittberger: Die Frage beinhaltet eine hypothetische Ursache-Wirkung-Kette, deren Eintreten sehr unwahrscheinlich ist, weil bereits der erste Schritt in dieser Kausalkette höchst unwahrscheinlich ist. Polen wird mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit ohne Nato-Unterstützung keine eigenmächtige Friedensmission starten. Das Szenario ist nicht nur unwahrscheinlich, es ist gleichzeitig auch keine gute Idee. Angenommen, Polen würde eigenmächtig oder aber mit Unterstützung einiger gleichgesinnter Staaten Truppen in die Ukraine entsenden, wäre Polen unweigerlich Kriegspartei, selbst wenn das erklärte Ziel wäre, "nur" humanitäre Korridore ohne Einsatz von Waffengewalt abzusichern. Putin würde das mit hoher Sicherheit als einen feindlichen Akt einstufen, was das Eskalationspotenzial in diesem Krieg unweigerlich hochschnellen ließe.

Zum einen würden polnische Soldaten auf dem Boden der Ukraine russische Angriffsziele, zum anderen wäre die Nato in der verzwickten Lage, sich vom polnischen Alleingang distanzieren zu müssen, um nicht selbst als Kriegspartei aufzutreten. Und wenn polnische Soldaten tatsächlich angegriffen würden, würde das die Nato spalten – in diejenigen, die Polen beistehen wollen (und damit die Nato zur Kriegspartei machen), und in diejenigen, die das ablehnen, weil sie die Nato nicht in eine direkte Konfrontation hineinziehen wollen (zumal der öffentliche Druck dann noch größer würde, militärisch einzugreifen). Wer die Perfidie von Putins Agieren noch nicht begriffen hat, würde genau das fordern: eine Friedensmission eines Nato-Staates, die nicht von der Nato mandatiert ist. Es gibt kaum einen direkteren Weg, die Nato zu schwächen. So frustrierend und zynisch es klingen mag: Von einer solchen Idee profitiert vor allem Herr Putin. Daher fordert Polen ja auch eine Nato-Friedensmission. Ob das eine gute Idee ist, ist ebenfalls zu bezweifeln. Dann wäre die Nato unweigerlich Kriegspartei, und der weiteren Eskalation wären Tür und Tor geöffnet: Wer glaubt, dass Putin die Friedenstruppen gewähren lassen wird? Und selbst wenn die Nato maßvoll auf einen Angriff auf ihre Friedenstruppen reagiert (was wahrscheinlich wäre), wie maßvoll reagiert der Autokrat im Kreml?

Jessica Fortin-Rittberger: Die Russische Föderation ist ein multiethnischer Staat, der sich entlang ethnischer Linien aus territorialen Untereinheiten zusammensetzt. Die Frage nach dem Auseinanderbrechen dieser Föderation wurde in den 1990er-Jahren intensiv diskutiert – nicht zuletzt, weil Russland eine Reihe von Spannungen zwischen Zentrum und Peripherie verzeichnete, mit dem Tschetschenienkrieg als einem Höhepunkt. Jetzt, rund zwanzig Jahre später, hat Russland einen erheblichen Teil seiner Truppen in der Ukraine stationiert. Da ist es verlockend zu denken, dass ein Zerfall entlang ethnischer Linien wieder auf die Tagesordnung kommen könnte. Russland wäre wahrscheinlich nicht mehr in der Lage, eine solche Bewegung so schnell wie früher zu unterdrücken. Doch ich würde aus mehreren Gründen die Wahrscheinlichkeit einer Abspaltung von Regionen als gering einordnen.

Zunächst einmal sind die Verwaltungsgrenzen so gezogen, dass die sogenannten Titulargruppen nur selten tatsächlich eine ethnische Mehrheit in einem Territorium darstellen. Dies erschwert jeglichen Trend in Richtung Unabhängigkeit, macht ihn kompliziert. Außerdem sind separatistische Gefühle in der Russischen Föderation nicht sehr stark ausgeprägt. Die wenigen Studien dazu ergaben die größte Unterstützung in den Republiken Tuwa (südliches Sibirien), Tatarstan (westlich des Ural-Gebirges) und Sacha-Jakutien (im Nordosten Russlands). Auch wenn ethnische Russen in diesen Gebieten in geringerer Zahl die Unabhängigkeit befürworten, ist man dort immer noch weit entfernt von einer allgemeinen Mehrheit für die Unabhängigkeit. Dazu kommt, dass viele solcher ethnischen Bezirke wirtschaftlich weniger entwickelt und von Subventionen abhängig sind.

Und schließlich: Während Boris Jelzin in den Anfangsjahren der Russischen Föderation (ab 1991) die regionalen Eliten durch die Gewährung regionaler Autonomie für Unterstützung der Moskauer Führung gewinnen konnte, wurde dieser Ansatz mit Wladimir Putin umgekehrt: Die Verwaltung wurde wieder zentralisiert, und einige ethnische Gebiete wurden durch größere gleichsam geschluckt. Dadurch wurden etwaige Ambitionen regionaler Eliten, mehr Autonomie zu erlangen, vereitelt. Sollte Moskau also auch einen Teil seiner Regierungsgewalt verlieren, würde es nicht automatisch zu erfolgreichen Unabhängigkeitsbewegungen kommen – vielleicht zu Unruhen, aber zu keiner Abspaltung ganzer Republiken. Die Geschichte lehrt uns jedoch, dass separatistische Gefühle schnell aufkommen und eskalieren können. Stabilität ist in der Politik nie eine Selbstverständlichkeit.

Peter Bußjäger: Nein. Die Neutralität stellt nach mehr oder weniger einhelliger Auffassung kein Grundprinzip der österreichischen Bundesverfassung dar. Sie wurde ja auch nicht mit einer Volksabstimmung eingeführt. Ihre Einschränkung oder Beseitigung bedürfte daher keiner Volksabstimmung. Zu beachten ist auch, dass das Bundesverfassungsgesetz über die Neutralität Österreichs wesentlich durch Art. 23j B-VG über die Mitwirkung Österreichs an der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik der EU eingeschränkt ist. Das kommt in der Diskussion häufig nicht so zur Sprache.

Martin Senn: Die politischen Parteien tun sich schwer mit dem Thema Neutralität. Angesichts des starken Zuspruchs der österreichischen Bevölkerung zur Neutralität, ist ihnen bewusst, dass sie mit einer Neutralitätsdebatte keine Wahl gewinnen können, aber leicht eine Wahl verlieren können. Zudem wurde eine politische Debatte über die Neutralität bislang als nicht wirklich notwendig erachtet.

Einerseits wurde zwar mit dem Beitritt zur EU und angesichts der verteidigungspolitischen Integration der EU durch die Verträge von Amsterdam und Lissabon, die österreichische Neutralität rechtlich in ihrem Geltungsbereich eingeschränkt – Österreich kann im Rahmen von EU-Missionen und der europäischen Beistandspflicht neutral bleiben (Stichwort: Irische Klausel), muss es aber nach nationalem Recht nicht mehr (Stichwort Art 23j des B-VG). Andererseits war die europäische Beistandspflicht lediglich eine entfernte Option, vor der man sich entweder mit Verweis auf die irische Klausel ducken oder lediglich durch nicht-militärischen Beistand nachkommen könnte.

Diese Beistandspflicht (Art 42.7 des EU-Vertrags) ist aber jetzt dahingehend relevanter geworden, als die europäischen Nato-Staaten ihre Bereitschaft erklärt haben, auch den neutralen und bündnisfreien Staaten im Fall einer militärischen Aggression Beistand zu leisten. Dieser Beistand würde über Art 42.7 laufen. Für Österreich stellt sich damit eine wichtige Frage: Wenn man sich auf die europäischen Nato-Staaten verlässt, was ist man dann selbst bereit im Bündnisfall, also im Fall eines Angriffs auf einen Nato-Staat, beizusteuern? Eben weil die Neutralität eingeschränkt wurde, also nicht mehr für den Bereich der gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik gilt, hätte Österreich die Möglichkeit, auch einen militärischen Beitrag zu leisten. Ob man einen solchen im Sinne der europäischen Solidarität leisten möchte und wie ein solcher aussehen könnte, muss Gegenstand politischer Debatten sein.

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