Im Gastblog schreibt der Schulsprecher des GRG6 Rahlgasse, Mati Randow, über seine Ansprüche an eine Schule der Zukunft und fordert eine Reform des maroden Bildungssystems.

Die Zustände im österreichischen Schulwesen sind für alle Beteiligten unzumutbar. Daran ist nicht nur das inzwischen endgültig entgleiste Corona-Management schuld, wir haben ein grundsätzliches Problem: Lehrmethoden sind aus der Zeit gefallen, dauerhafter Leistungsdruck schadet der persönlichen Entfaltung, und starre Strukturen unterdrücken, statt zu fördern. Vor allem aber fehlt es an Ideen, unser Bildungssystem langfristig und gesamtheitlich zu verbessern. In der Politik formuliert seit geraumer Zeit niemand glaubhaft den Anspruch, Gesellschaft durch Schule zu formen. Dabei haben wir mit der Wiener Schulreform eine einzigartige Blaupause dafür.

Reform vor einem Jahrhundert

Am Dienstag, dem 28. März 1922, also vor 100 Jahren, konstituierte sich der Wiener Stadtschulrat und ersetzte nach der Trennung Wiens von Niederösterreich den Bezirksschulrat. Zu seinem ersten geschäftsführenden Präsidenten wählte er mit Otto Glöckel einen leidenschaftlichen Bildungspolitiker. Mit seiner Vision einer neuen Schule sollten Kinder und Jugendliche zu "tüchtigen, aufrechten, sittlich gefestigten, arbeitsfreudigen Tatmenschen" erzogen werden. Es blieb nicht bei Worthülsen, bald folgten Taten. So wurde unter Glöckel in den folgenden Jahren mit voller Kraft an der Wiener Schulreform gearbeitet.

Das bisherige System der "Lernschule", in der Schülerinnen und Schüler Lernstoff auswendig lernen, nicht aber das Gelernte hinterfragen sollten, war für die Reformer nicht mehr zeitgemäß. An seine Stelle sollte die "Arbeitsschule" treten, lebensnaher Unterrichtsinhalt so selbstständig wie möglich angeeignet werden. Mit der erstmaligen Ermöglichung von Schulausflügen wurde eine Verbindung zwischen persönlicher Erfahrung und geordnetem Wissen hergestellt. Im "Gesamtunterricht" wurde der Stoff in seiner für Glöckel "selbstverständlichen" Einheit vermittelt, statt in beschränkende Fächer unterteilt zu sein. In der Folge sollte die "innere Teilnahme der Kinder" am Unterricht gesteigert werden, um sie vom Gegenstand so zu erfüllen, "dass der Lehrer zurücktreten kann".

Schon in seiner vorangegangenen Funktion als kurzfristiger Leiter des Unterrichtsamts hatte Glöckel eine "Reformabteilung" einberufen und mit psychologischen und pädagogischen Experten wie Hans Fischl, Viktor Fadrus oder Carl Furtmüller (Fi-Fa-Fu) besetzt. Sie vertraten die Lehre des Begründers der Individualpsychologie, Alfred Adler, und wollten eine "Umwandlung und Neugestaltung des Schülergeistes" hin zur Herstellung eines Gemeinschaftsgefühls in der jungen Generation. Dabei helfen sollte auch das neue Konzept der Selbstverwaltung der Kinder und Jugendlichen. Sie durften fortan die Schulordnung (vergleichbar mit der heutigen Hausordnung) selbst bestimmen, so wie sich in einer Demokratie Bürgerinnen und Bürger die Gesetze selbst geben.

Die Reformpläne von vor 100 Jahren sind heute notwendiger denn je.
Foto: imago images/photothek

Einige Konflikte, viele Erfolge

Aber nicht nur Schülerinnen und Schüler sollten von ihrer Expertise profitieren. Am neuen Pädagogischen Institut der Stadt Wien wurden Lehrerinnen und Lehrer reformpädagogisch und individualpsychologisch geschult, ihre Ausbildung somit aufgewertet. Auch Eltern wurden stärker in das Geschehen an der Schule ihres Kindes eingebunden. An jeder Wiener Schule wurde ein Elternverein errichtet, in kurzer Zeit traten über 11.000 Elternräte zusammen. Insgesamt sollte so eine "Schulgemeinschaft" aus Schülerinnen, Schülern, Lehrerinnen, Lehrern und Eltern und der Schulleitung entstehen, die heute regelmäßig tagenden "Schulgemeinschaftsausschüsse" finden in dieser Idee ihren Ursprung.

Nicht zuletzt sollte Chancengleichheit im Schulsystem hergestellt werden. Kinder aus der Arbeiterklasse und dem Kleinbürgertum hatten bis dato nur geringe Chancen auf das Erreichen eines höheren Bildungsniveaus. Nicht nur wurde daher bereits 1919 die "Unentgeltlichkeit aller Lehrmittel" beschlossen. Die Wiener Schulreformer forderten auch eine gemeinsame Schule der Zehn- bis 14-Jährigen im Anschluss an die Volksschule. Es sollte nicht nach äußeren Umständen, sondern nach Leistung und Erfolgen differenziert werden. Glöckel stellte sogar die These auf, ein solches System würde der "langersehnten inneren Einheit der Nation auf alle Weise förderlich sein".

Damals wie heute herrschten große politische Konflikte um die "Einheitsschule" (inzwischen: Gesamtschule). Als Glöckel etwa 1926 für die bundesweite Einführung einer Einheitsschule plädierte und dazu einen "Schulkompromiss" mit den regierungsführenden Christlichsozialen schloss, kam es zu einer Regierungskrise. In der Folge musste Unterrichtsminister Emil Schneider zurücktreten, und nach einer Großdemonstration auf der Wiener Ringstraße mit hunderttausenden Teilnehmenden wurde die "Hauptschule" mit vereinheitlichtem Lehrplan für Zehn- bis 14-Jährige beschlossen. Im Austrofaschismus wurde sie wieder abgeschafft, bis heute konnte sich die Gesamtschule in Österreich nicht durchsetzen.

Ansprüche stellen

Der Rückblick auf die Wiener Schulreform liefert zahlreiche Denkanstöße, zeichnet aber auch ein verheerendes Bild der heutigen Schulpolitik. Sie wirkt fast stümperhaft und folgt keinem in die Zukunft gerichteten Leitbild. Die letzten beiden Bildungsminister, Heinz Faßmann und Martin Polaschek, haben diesen Eindruck durch ihr Wirken nur verstärkt. Statt die Corona-Krise als Chance anzusehen und zu nutzen, um das Bildungssystem zu erneuern, handelten sie wiederholt gegen Gesundheit, Anliegen von Schülerinnen und Schülern und wissenschaftliche Evidenz. Das ist mehr als eine bittere Randnotiz. Es hat auch in neuem Ausmaß offengelegt, wie weit wir uns von den in vielen Bereichen unbestreitbaren Zielen der Wiener Schulreform entfernt haben, wie kümmerlich unsere Schulpolitik geworden ist. Wer fördert heute Demokratiebildung, wer tritt ein für gleiche Chancen für alle, wer fordert eine Pädagogik vom Kind aus? Wer ist heute Vorbild für junge Menschen?

Die Möglichkeiten, die Reform auf Basis ihres Konzepts fortzusetzen, sind nahezu grenzenlos. Man denke nur an Flipped Classrooms, bei denen Schülerinnen und Schüler sich selbstständig Stoff aneignen und mit Lehrerinnen und Lehrern vertiefen statt umgekehrt, als Weiterführung der Arbeitsschule. Man denke an eine Wahl der Bundesschülervertretung durch alle Schülerinnen und Schüler als Projekt der Demokratisierung der Jugend. Doch um einen neuen Reformgeist zu schaffen, müssen endlich wieder Ansprüche gestellt werden, die über kurzsichtige Parteipolitik hinausreichen.

Meine Ansprüche lesen Sie in Zukunft hier. (Mati Randow, 28.3.2022)