Karl Nehammer war die Erschütterung am Montagabend anzumerken: Auch wenn die Erwartungen vor seinem Gespräch mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin denkbar bescheiden gewesen sein dürften, so musste der österreichische Bundeskanzler auch diese noch begraben. Jede Hoffnung auf ein Signal, dass Putin derzeit Verhandlungen dem Krieg in der Ukraine vorziehen könnte, zerschlug sich.

Bundeskanzler Karl Nehammer am Montag in der österreichischen Botschaft in Moskau.
Foto: Natalia KOLESNIKOVA / AFP

Nehammer hat es so nicht gesagt, aber aus seinen Worten ist zu schließen, dass das Gespräch mit Putin eine furchtbare Erfahrung war. Die Analyse am Tag danach ist ernüchternd.

Der Nutzen des Besuchs

Einen messbaren Nutzen des Besuchs gibt es nicht – außer den von STANDARD-Redakteur Eric Frey in seinem Kommentar angeführten, dass nun alle Zweifel darüber beseitigt sind, dass Putin auf eine militärische Lösung in der Ukraine setzt. Bitter, aber klar.

Nicht einmal höflichkeitshalber gab es ein Bekenntnis Putins zu den humanitären Rechten der ukrainischen Zivilbevölkerung, die auch im Krieg Geltung haben sollten. Aber bei jemandem, der die offensichtlichen russischen Kriegsverbrechen in Butscha und anderswo als ein ukrainisches Propagandakonstrukt bezeichnet, war wahrscheinlich auch diese Erwartung noch überzogen. Im russischen Narrativ sind die Aggressoren die anderen – auf deren Seite die Österreicher stehen.

Die russische Propaganda

Eine große Befürchtung hat sich nicht bewahrheitet beziehungsweise wurde sie von Nehammer, der keine Fotos zuließ, abgewendet: dass Putin aus Bildern mit Nehammer propagandistischen Nutzen ziehen könnte. Ein absoluter Albtraum wäre ein Handschlag-Foto gewesen – aber zu dem wäre es allein wegen der klinischen Distanz, die Putin zu seinen meisten Besuchern hält, nicht gekommen. Die Ausschlachtung durch die staatstreuen russischen Medien wurde so in Grenzen gehalten.

Der Schaden des Besuchs

Es hat dennoch eine russische Berichterstattung gegeben, die teilweise ein verheerendes Bild von Nehammer und Österreich zeichnete: Er wurde dargestellt als einer, der zu den westlichen "Aggressoren" gehört, der aber zu kaufen wäre, wenn ihm Russland nur genügend Erdgas bieten würde. Auch die Bemerkung von Dmitri Peskow, dem Sprecher des Präsidenten, war äußerst herablassend: Das Gespräch habe kürzer gedauert als sonst üblich. Die Botschaft dahinter: nicht wichtig. Auch das Insistieren auf dem Istanbul-Format für russisch-ukrainische Verhandlungen heißt ja nichts anderes als "Wir brauchen euch nicht".

Das Gespräch

Von den 75 Minuten, die es gedauert hat, muss man eine geraume Zeit für die Übersetzung abrechnen – auch wenn, wie es am Dienstag hieß, simultan übersetzt wurde. Putin hält gerne historische Vorträge, Nehammer wird es nicht leicht gehabt haben, seinen Teil der Redezeit zu bekommen. Es muss sehr fordernd sein für jemanden wie Nehammer, der keinerlei Erfahrung mit Gesprächen auf dieser Ebene und in dieser Art hat, so einen Gesprächspartner allein – ohne den österreichischen Botschafter, ohne Berater an der Seite – zu konfrontieren.

Vermittler und Brückenbauer

Stefan Lehne, früherer politischer Direktor des Außenministeriums in Wien und jetzt bei Carnegie Europe in Brüssel, hat in der ZiB 2 Montagabend hart von "Selbstüberschätzung" in dieser Frage gesprochen. Im konkreten Fall sind wir weder für Russland akzeptabel – wir haben uns ja den EU-Maßnahmen angeschlossen – noch für alle EU-Partner besonders glaubwürdig, eben wegen unserer vergangenen Russlandfreundlichkeit.

Auch auf die Frage, weshalb von dort keine Kritik kam, als der Bundeskanzler seine EU-Kollegen informierte, geht Lehne ein. Die Struktur der Gemeinsamen Sicherheits- und Außenpolitik sehe es nicht vor, "dass irgendjemand sagt 'Karl, lass das'".

Der Zeitpunkt

Lehne verweist auch auf den besonders kritischen Zeitpunkt des Besuchs Nehammers, am Vorabend einer russischen Offensive. Der deutsche Sicherheitsexperte Peter R. Neumann sieht eine besondere "Demütigung" Nehammers und Österreichs vor aller Welt, wenn sich die Berichte vom Giftgaseinsatz in Mariupol bewahrheiten sollten. Das wäre in der Tat eine schreckliche Gleichzeitigkeit, auch wenn fast auszuschließen ist, dass das von russischer Seite absichtlich so inszeniert wurde. Die Mühe machen sie sich nicht. (Gudrun Harrer, 12.4.2022)