Calixto Bieito: "Meine Proben sind nicht sehr lang, aber intensiv. Ich achte auf die Sänger und Sängerinnen."

Foto: Wiener Staatsoper / Peter Mayr

Als Calixto Bieito 2013 an der Bayerischen Staatsoper Boris Godunow inszenierte, las er einige Biografien über Wladimir Putin. Nicht um den Kriegspräsidenten auf die Bühne zu bringen – so plakativ arbeitet der katalanische Regisseur nicht, der für die Staatsopernpremiere Tristan und Isolde denn auch leicht angewidert feststellt, Richard Wagner selbstverständlich nicht in seine Inszenierung implantieren zu wollen. Bieito, den man gerne mit dem Begriff "Skandalregisseur" in Verbindung bringt, las die Bios, um Machtmechanismen und Russland zu studieren. Dennoch hat ihn der jetzige Krieg gegen die Ukraine überrascht. Ja, sogar Angst scheint er dem leise sprechenden Zeitgenossen zu bereiten.

Proben an der Wiener Staatsoper sind für den 1963 in Miranda de Ebro Geborenen womöglich ein Weg, den Schrecken auszublenden. Er habe jedenfalls "Spaß an den Proben", erzählt Bieito. "Ich fühle mich manchmal besser bei den Proben als im Leben ..." Ausblenden heißt allerdings nicht, Tristan und Isolde in kitschige Regiewatte zu packen, es gehe schließlich um eine extreme Beziehung. "Es ist eine Geschichte von Liebe und Tod, sie ist nicht sentimental. Es geht zwar um Romantik, aber wir verwenden das Wort ,romantisch‘ etwas zu eingeschränkt. Es heißt ja: ,Oh, die Klänge von Julio Iglesias sind so romantisch!‘ Aber das ist nicht Romantik!"

Liebe und Depression

Romantik gehe viel tiefer, "sie ist heftiger, diese Opernliebe stellt sich gegen die Konvention, lässt Mauern einstürzen. Da sind Sehnsucht und Hass. Zwischen Tristan und Isolde tobt ein großer Kampf, aber da ist auch Zärtlichkeit. Diese Art von Liebe ist mit Obsession und Depression verbunden, auch mit dem Unglücklichsein mit dem eigenen Leben. Die einzige Möglichkeit sich zu retten, ist die Verbindung mit der anderen Person und mit ihr zu sterben." Bieito geht es symbolhaft "auch um die Darstellung unseres Inneren durch Wasser und Meer. Es geht um unser inneres Meer."

Trotz dieses psychoanalytischen Tauchgangs in das Unbewusste der Figuren ist da offenbar Probeneffizienz. "Bei mir sind sie nicht sehr lang, aber intensiv. Was ich vorschlage, sind Möglichkeiten. Wenn es nicht funktioniert, habe ich eine andere Idee. Die Kollegen und Kolleginnen müssen sich keine Sorgen machen." Jeder Sänger, jede Sängerin sei anders, sagt Bieito. "Ich muss ihnen die Möglichkeit geben, sich als Künstler und Künstlerin, die sie sind, zu verwirklichen. Da muss man großzügig sein. Ich komme nicht hierher, um zu sagen: ,Du nimmst das Glas in diesem Augenblick in die Hand!‘ Wir reden auch nicht viel. Ich sehe Andreas Schager an, der Tristan ist, und wir wissen, was wir wollen. Wir arbeiten sehr tief – mit wenigen Worten."

Die Kollegen würden schon vorab etwas über Bieitos Ideen erfahren, aber nonverbal. "Es ist sehr einfach: Ich gebe ihnen Fotos, Gemälde, Filme, das fördert die Imagination. Das alles kommt dann ganz selbstverständlich aus ihnen als Ausdruck heraus." Reden über die Charaktere der Oper "würde verwirren, man würde so beginnen, einzugrenzen."

Kampf mit Bruder

Bieitos eigene Vorbereitung gleicht hingegen einer Mischung aus meditativem Rückblick und freier Assoziation: "Bei Tristan begann es mit den Erinnerungen an meine Kindheit, an die Spiele und Kämpfe mit meinem Bruder. Wir schlüpften in Papierrüstungen, spielten Rollen ... Ich erinnere mich auch an die heftigen Emotionen, die das Vorspiel zu Tristan bei mir ausgelöst hat." Bieito liest viel, befasst sich "mit verschiedenen Sichtweisen zur Geschichte. Aber das Visuelle ist sehr wichtig für mich, also Gemälde und Fotos."

Bieito selbst faszinierten früh Filme von Luis Buñuel, Gemälde von Goya und überhaupt der Surrealismus. Seine eigenen Arbeiten sind schon mal expressive Werkdeutungen, in denen Gewalt und Erotik drastisch dargestellt werden können. Dass er dafür bekannt ist, sehr weit zu gehen, wundert Bieito. "Das war nie meine Absicht, ich spekuliere nicht damit. Ich möchte den Leuten mit meiner Arbeit nicht sagen, was sie denken sollen. Ich will keine Lektionen erteilen. Wie sie mich sehen, so bin ich. Ich bin so simpel und so kompliziert wie jeder andere Mensch!" Bieito hat weltweit überall, wo substanzvolle, subjektive Oper erwünscht ist, inszeniert. Nur nicht an der Wiener Staatsoper. Nach der Übernahme seiner Carmen, die er heiter eine "Jugendarbeit" nennt, ist Tristanund Isolde also die erste Neuinszenierung des Weltstars, der in Basel lebt.

Hatte man früher in Wien Angst vor seinem Stil? "Keine Ahnung. Soweit ich weiß, gab es keinen Kontakt. Niemand muss vor meiner Arbeit Angst haben." Der Druck? "Er ist gleich groß in einem kleinen wie in einem großen Haus" – es sei nämlich nur jener, "den ich mir selbst mache. Ich denke nicht an das Publikum, eher erst zehn Minuten vor dem Applaus. Und natürlich mag ich keine Buhs. Im Gegensatz zu manch anderen Kollegen." (Ljubiša Tošic, 13.4.2022)