Alle zwei Jahre berichten Medien ausführlich über Statistik. Dieses Interesse hat freilich nichts mit einer plötzlich aufflammenden Liebe zu dieser an Zahlen, Tabellen und Kurven reichen Wissenschaft und ihren Methoden zu tun. Es liegt schlicht an der Tatsache, dass Statistiker dann die Wahrscheinlichkeiten für den Verlauf von Fußball-Welt- und -Europameisterschaften der Männer berechnen.

Illustration: Fatih Aydogdu

Und genau das ist für die Öffentlichkeit spannend. Seit der EM 2008 in Österreich und der Schweiz beteiligt sich Achim Zeileis von der Universität Innsbruck regelmäßig an derartigen Vorhersagen – mit durchaus beachtenswerten Ergebnissen.

Zeileis und sein Team lagen mit Spanien als Sieger der WM 2010 in Südafrika und der EM 2012 in Polen und der Ukraine genauso richtig wie mit drei von vier Halbfinalisten des WM-Turniers 2014 in Brasilien. Seit 2019 versucht die Gruppe auch die Frauen-Weltmeisterschaften vorherzusagen. Tatsächlich hat sich auch hier der haushohe Favorit – die USA mit gut 28 Prozent Gewinnwahrscheinlichkeit – durchgesetzt.

Welche Daten nützt die Statistik-Gruppe für ihre Berechnungen? Das Forschungsteam um Zeileis greift auf die Quoten von mehr als 20 Online-Wettanbietern – darunter Buchmacher und Wettbörsen – zu und bereinigt sie um die üblichen Gewinnaufschläge der Wettfirmen.

Unfehlbarkeit ist unmöglich

Danach wird das ganze Turnier millionenfach in einem von Zeileis und zwei Kollegen der Wirtschaftsuniversität Wien, Christoph Leitner und Kurt Hornik, entwickelten Simulationsprogramm durchgespielt, von der Gruppenphase über Viertel- und Halbfinalpaarungen bis zum Finale.

Der Statistiker betont: "Wir sagen nicht, wer Welt- oder Europameister wird, wir geben nur Wahrscheinlichkeiten an." Und die liegen selbst bei hohen Favoriten um die 15 bis 20 Prozent. Bei guten Teams, die bei Buchmachern nicht top geratet sind, wie etwa Portugal, dem Sieger des EM-Turniers 2016, und Italien, Europameister 2021, beziffert das Team die Gewinnwahrscheinlichkeit mit fünf bis zehn Prozent.

Bei Österreich waren es im vergangenen Jahr 1,5 Prozent – das entsprach aber auch genau den Möglichkeiten der Nationalmannschaft, die ruhmreich gegen den späteren Champion Italien verlor. Vor der Fußball-Weltmeisterschaft in Russland 2018 gab es laut Zeileis zwei Topfavoriten – Brasilien mit einer Gewinnwahrscheinlichkeit von 16,6 Prozent auf den Weltmeistertitel, dicht gefolgt von Deutschland mit 15,8 Prozent.

In diesem Fall waren die Statistiker mit ihren Berechnungen weit weg vom Endergebnis. Frankreich wurde Weltmeister, für Brasilien war schon im Viertelfinale, für Deutschland sogar in der Gruppenphase Schluss.

"Ich wäre skeptisch, wenn wir mit unseren Prognosen nie danebenliegen würden", sagt Zeileis heute. "Es kann nicht funktionieren, dass wir einen gesamten Turnierverlauf mit hoher Wahrscheinlichkeit richtig vorhersagen, obwohl wir ja auf empirische Daten und Expertenwissen zugreifen." Damit sind sie immer noch näher an der Realität als Fußballfans, die nach dem Bauchgefühl urteilen.

Spektakuläres Scheitern

Buchmacher scheitern mit ihren Quoten immer wieder – auch spektakulär. Zeileis verweist auf das mittlerweile legendäre Halbfinalspiel bei der WM 2014 in Brasilien. Deutschland schlug den Gastgeber nach einem überraschenden Spiel 7:1. Schwerwiegender sei aber eine Fehleinschätzung in der Premiere League gewesen – als der Aufsteiger von 2014, Leicester City, in der Saison 2015/2016 Meister wurde.

Die für Wetteinsätze auf Leicester sehr günstigen Quoten wurden zu langsam angepasst. "Viele Buchmacher haben damals sehr viel Geld verloren", sagt Zeileis. In Erinnerung an die Fußball-Europameisterschaft 2004 in Portugal sagt der Statistik-Professor: "Da wären wir mit unserem Simulationsprogramm auch gescheitert."

Zur Erinnerung: Griechenland gewann nach einigen knappen Siegen. Damals schrieben die Zeitungen: "Der Außenseiter hat sich zum Titel gemauert." Doch wer gewinnt, hat letztlich alles richtig gemacht.

Maschinelles Lernen

Die Statistiker-Gruppe aus Innsbruck nützt für ihre Prognosen längst maschinelles Lernen. In die Berechnungen werden nämlich nicht mehr nur Wettquoten einbezogen, sondern auch Studien von Kollegen und Kolleginnen aus Norwegen, Deutschland und Belgien. Sie betreffen die Form der Spieler im Laufe der Saison, statistische Daten über Länderspiele der vergangenen Monate und Jahre sowie weitere Informationen über die Teams und ihre Herkunftsländer.

Als Beispiel hebt Zeileis eine nicht unbedeutende Frage hervor: "Sind mehrere Fußballer der Nationalmannschaft in der Champions League aktiv?" Alle zwei Jahre, wenn der Statistiker seine Berechnungen anstellt, ziehen Medien auch interessante Parallelen. "Zeileis holt die Glaskugel raus", war da schon zu lesen. Immerhin: Mit Paul, der Krake, dem legendären Tentakel-Orakel zur Fußball-WM 2010, wurde der Wissenschafter noch nicht verglichen.

Statistik ist eine wichtige Hilfswissenschaft für viele Forschungen: In Innsbruck läuft etwa eine langjährige Kooperation mit den Atmosphärenwissenschaften. Dabei geht es nicht nur, aber auch um die Vorhersage von Wetterereignissen. In diesem Feld werden ebenfalls Wahrscheinlichkeiten angegeben.

"Auch hier können wir mit Prognosen danebenliegen", sagt Zeileis. Ob ihn als seriösen Wissenschafter Glaskugel-Vergleiche ärgern? Der Statistiker relativiert. Die Prognosen über die Verläufe von Fußball-Welt- und -Europameisterschaften werden natürlich in seriösen Journals publiziert, außerdem "freuen wir uns, wenn wir so einer breiteren Öffentlichkeit zeigen, wie wir arbeiten". (Peter Illetschko, 24.4.2022)