Theresa Martini hinreißend als Zeitzeugin und Autorin Inge Ginsberg (1922–2021).

Foto: Marcel Köhler

Andreas Joska-Sutanto hat sich vorgenommen, Hitlers Mein Kampf zu atomisieren. Er möchte das Druckwerk zerlegen, und zwar in seine kleinsten unteilbaren Einheiten, also in seine Buchstaben. Seit einigen Jahren trägt der Wiener nun Letter für Letter ab, sticht sie mit scharfer Feile aus den Sätzen und verfrachtet sie in einen Setzkasten. Von dort treten sie ein neues Leben an, als Buchstaben in einfachen, aber guten Rezepten. Titel des Kunstprojekts: "Kein Mampf".

Joska-Sutanto ist eine "Figur" in David Maayans Theaterinstallation The more it comes the more it goes, die soeben im Wiener Hamakom-Theater Uraufführung hatte. Zentrale Frage: Wie mit dem Holocaust umgehen? Eine Frage, die den israelischen Regisseur zeit seines Lebens beschäftigt. Maayan war immer wieder in Österreich zu Gast, etwa bei den Wiener Festwochen mit dem Migrationsprojekt Familientisch (2005).

Öffentlicher Raum

In Maayans Arbeiten nimmt der öffentliche Raum stets eine wichtige Funktion ein. Das Leben und die Stadtlandschaft da draußen sollen in den Theatersaal hineinragen. Deshalb geht der eigentlichen Performance (damals wie heute) ein Stadtspaziergang voraus. Der Abend beginnt also im Freien, vor dem Uhrenmuseum im Schulhof Nummer zwei, und führt, vom Historiker Philipp Reichel-Neuwirth entlang von Gedenkstätten mit Input begleitet, über den Judenplatz zum Hohen Markt, über die Jerusalemstiege weiter zur Judengasse und zum Morzinplatz, wo sich das ehemalige Gestapohauptquartier befand.

Teil zwei der Inszenierung folgt dann im Nestroyhof-Hamakom, und zwar als Stationentheater, das bis in die Kellerräume führt. Maayans Anliegen ist es, eine junge Generation mit Fragen der Holocaust-Gedenkkultur zu konfrontieren. Und da wird klar, dass die persönlich erzählte Geschichte noch immer die nachhaltigste Form der Auseinandersetzung darstellt. Während eine Installation mit Anne-Frank-Lektüre und orientierungslosem Orang-Utan (Romy Kolb) kaum "lesbar" geworden ist, reenacted Theresa Martini hinreißend Interviewgespräche der Zeitzeugin und Autorin Inge Ginsberg, die sich als junge Frau vor den Nazis eine Nacht lang erfolgreich in der berühmten Anker-Uhr in Wien versteckt hielt.

Trauerstunde

The more it comes the more it goes vollzieht sich vorwiegend als theatralisches Ritual, das einer Trauerstunde (insgesamt: 3 h 15) gleichkommt. Wie in einem unendlichen Sog inventarisieren Schülerinnen zahllose Bücher mit Häftlingsnummern und murmelt dazu ein Lehrer (Ulrich Probst), spielt und singt ein Ensemble mit Geige und sticht jener die Hitler-Buchstaben ab. Joshua Sobol und Magda Woitzuck bringen ihre Texte über Videolesungen ein. Ein Theaterabend wie eine Erinnerungsmaschine auf kleiner Flamme. (Margarete Affenzeller, 20.4.2022)