Ist der Pisa-Erfolg chinesischer Regionen Resultat von Drill an den Schulen? "Wer das behauptet, war 20 Jahre lang nicht in China", sagt Bildungsforscher Schleicher und sieht antiquierte Methoden eher im heimischen Schulsystem.

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Rund 9100 Schülerinnen und Schüler an 320 Schulen: So groß ist hierzulande die Beteiligung an den Pisa-Tests, die ab dieser Woche bis Ende Mai stattfindend. Doch die von der OECD angestoßene Überprüfung der Fähigkeiten in Lesen, Mathematik, Naturwissenschaften und erstmals Finanzkompetenz stößt auf Einwände. Kritiker wie Stefan Hopmann von der Universität Wien sehen in dem Projekt, das 80 Länder umfasst, kaum mehr als hinausgeschmissenes Geld: Ein Test wie dieser könne niemals ein umfassendes Bild von der Qualität an Schulen bieten.

STANDARD: Diese Woche starteten die Pisa-Tests. Erwarten Sie, dass sich die Corona-Krise in einem starken Leistungsabfall niederschlägt?

Schleicher: Kommt darauf an. Schülerinnen und Schüler, die selbstständig lernen können und Zugang zu alternativen Lernangeboten haben, werden wohl ganz gut durchgekommen sein – und vielleicht haben die sogar Sachen gelernt, die ihnen unter normalen Umständen entgangen wären. Doch unter jenen, denen diese Voraussetzungen und der soziale Rückhalt fehlen, werden viele zurückgeblieben sein. Wie weit, hängt von der Politik der einzelnen Länder ab.

STANDARD: Keine guten Nachrichten für Österreich, wo schulischer Erfolg laut OECD-Daten ja besonders stark vom Elternhaus abhängt.

Schleicher: In Ländern, wo dieses Phänomen bereits vorher stark ausgeprägt war, wird sich die Verschärfung durch die Corona-Krise entsprechend niederschlagen. Aber ich will nicht spekulieren – um handfeste Daten zu bekommen, machen wir ja Pisa.

STANDARD:Es gibt aber Zweifel, ob diese Daten valide sind. Pisa sage weder etwas über die Schüler noch etwas über die Qualität des Schulsystems aus, urteilt der Bildungsforscher Stefan Hopmann.

Schleicher: Das Kriterium, wie Schüler Gelerntes anwenden können, ist das relevanteste für Schulqualität – und genau das wird bei Pisa gemessen. Die Ergebnisse des Tests sind entscheidende Indikatoren für späteren Berufs- und Lebenserfolg.

STANDARD: Auf junge Mexikaner oder Türken warten aber andere Herausforderungen als auf Japaner oder Norweger. Zudem gibt es unterschiedliche Traditionen, worauf in Schulfächern besonderes Augenmerk gelegt wird. Ist es da nicht falsch, Kinder aus 80 Ländern per Einheitstest über einen Kamm zu scheren?

Schleicher: Pisa misst sicher nicht alles, was man fürs Leben braucht. Aber auf jene Grundfertigkeiten in Lesen, Mathematik und Naturwissenschaften, die der Test umfasst, können Schüler nirgendwo verzichten. Können sie mit der Informationsflut umgehen, ihr Wissen kreativ anwenden, Ursache von Wirkung unterscheiden, denken wie Naturwissenschaftler und Mathematiker? Wer dies heute nicht beherrscht, wird sich in der modernen Welt kaum zurechtfinden. Man tut den jungen Leuten nichts Gutes, wenn man das wegredet. Schlechte Leistungen in der Schule haben gravierende Konsequenzen, für den Einzelnen wie für ganze Länder. Gut, manche Fußballspieler werden nach wie vor Millionäre – aber sonst wird der Spielraum, ohne Basiskompetenzen erfolgreich zu sein, immer enger.

Österreich investiere viel, doch bei den Schülern komme zu wenig an, sagt OECD-Experte Schleicher.
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STANDARD: Pisa sei der "ideologische Prügel", um den Ländern wirtschaftsfreundliche Bildungssysteme aufzudrängen, sagt Hopmann.

Schleicher: Es geht nicht nur um die Suche nach einem vernünftigen Job. Ohne die Lesekompetenz, Fake-News von News zu unterscheiden, ist man in der informationsbeladenen Gesellschaft auch abseits des Wirtschaftslebens verloren. Schon, um online ein Ticket zu lösen, brauchen sie ein Mindestmaß dieser Fähigkeit. Der OECD geht es nicht um die Kompatibilität mit Wirtschaft, sondern um die Grundlagen für ein erfolgreiches Leben.

STANDARD: Chinesische Regionen, die an Pisa teilnehmen, waren zuletzt top. Der zweifelhafte Erfolg einer Drillschule, wie Kritiker warnen?

Schleicher: Wer das behauptet, war 20 Jahre lang nicht mehr in China. Österreich setzt zu sehr auf den Drill im Sinne einer Reproduktion von Fertigwissen, die Chinesen hingegen sind darüber längst hinweg. Dort geht es vielmehr um kreatives Denken und tiefes konzeptionelles Verständnis – deshalb der Erfolg bei Pisa. Aber unsere Studien zeigen auch, dass es mehrere Wege an die Spitze gibt: In Estland gehen die jungen Leute weniger Stunden in die Schule als in Österreich und erreichen dank einer tollen Lernumgebung genauso gute Ergebnisse wie die Chinesen.

STANDARD: Gegen den Vergleich mit europäischen Top-Staaten gibt es den Einwand, dass diese weniger Zuwandererkinder beherbergen als Österreich und Deutschland.

Schleicher: Migration ist eine Herausforderung, dient aber auch als vorgeschobenes Argument. Denn wenn man die Schüler mit Migrationshintergrund abzieht, ändert sich das Ergebnis nicht substanziell. Österreich wäre auch ohne einen einzigen Zuwanderer niemals in der Gruppe der Spitzenstaaten. Ziel von Pisa ist es, mit Vorurteilen wie diesen aufzuräumen und voneinander zu lernen.

STANDARD: Hat Österreich das genug getan?

Schleicher: Ernst genommen wurden die Resultate schon, aber nach wie vor gilt: Österreich investiert enorm viel Geld, doch bei den Schülern kommt davon zu wenig an. Die kreative Anwendung von Wissen kommt immer noch zu kurz. Wer aber stillsteht, wird weiter zurückfallen. (Gerald John, 21.4.2022)