Mit neuem Album in Bestform: Horace "Sleepy" Andy.

Foto: Michael Moodie

Im Normalfall gilt es sich zu entscheiden: Goldkehlchen oder Tanzbär. Bei Horace Andy ist die Antwort eher die Ausnahme, denn er ist beides. Der wahrscheinlich 71-jährige Jamaikaner gilt als einer der außergewöhnlichsten Reggae-Sänger. Seine Stimme war einst dermaßen ungewöhnlich, dass die Studiomusiker bei seiner ersten Session noch in ihre Joints kicherten, weil sie nie zuvor einen Mann so hoch singen gehört hatten. Doch genau dieses Falsett, oft mittels Vibrato dramatisiert, wurde zum Merkmal Andys in seiner gut fünf Dekaden umspannenden Weltkarriere.

Selbst wer im Reggae nicht zuhause ist, kennt den Mann wahrscheinlich: Er ist auf jedem Studioalbum der britischen Band Massive Attack zu hören, bei deren Auftritten er gerne von einem Bein aufs andere tappst, während Robert Del Naja und Co streng ihre Bildschirme kontrollieren. Die Zeit seit dem letzten Massive-Attack-Album im Jahr 2010 wurde dem Sänger nun zu lang, und er hat – ebenfalls nach einer Pause – ein neues Soloalbum veröffentlicht: Es ist großartig.

On-U Sound

Midnight Rocker ist eine Sammlung von Songs, die er mit dem britischen Produzenten Adrian Sherwood aufgenommen hat. Sherwood ist ein hemdsärmeliger Glatzkopf mit Punk-Vergangenheit und eine Institution auf der Insel.

Sein Wirkungskreis ist immens und reicht von Depeche Mode über The Pop Group zu herausragenden Reggae-Figuren wie Prince Far I oder Bim Sherman, denen er Alben maßgefertigt hat. Oder dem Großmeister Lee "Scratch" Perry, mit dem er ebenfalls arbeitete. Oder Jeb Loy Nichols, ein US-Amerikaner, der in den 1990ern mit den Fellow Travellers die Stile Country und Dub kreuzte. Eine Kunst, der Nichols, knietief im Soul watend, bis heute nachgeht.

Keine Störgeräusche

Nichols ist einer der Zulieferer für Midnight Rocker, auf dem Sherwood seine Vorliebe für Störgeräusche zugunsten der Mitternachtsstimmung bremst. Dann sind da noch Doug Wimbish und Skip McDonald. Deren Karrieren reichen zurück bis zu den Hip-Hop-Pionieren Sugarhill Gang und streifen die größten Namen im Pop-Biz: Von den Rolling Stones abwärts hat vor allem Wimbish mit fast allen gespielt. Beide gehören zum engsten Freundeskreis Sherwoods, entsprechend brillant klingt Midnight Rocker.

On-U Sound

Sherwood belegt das Album mit einer Melancholie, die stellenweise Reggae-ferne Instrumente wie das Cello zuliefern. Den Rest besorgt Daniele Gaudi, der ein gutes Dutzend Instrumente spielt; allesamt dienen sie als Fundament für Andys Honig-Gesang, der selbst bittere Nachrichten wie This Must Be Hell oder das Märchen von Easy Money wie Frohbotschaften klingen lässt.

Ein Dreamteam

Im Song Careful taucht sogar eine Blues-Harmonika auf, und die Neueinspielung von Safe From Harm aus dem Hause Massive Attack steht dem Original in nichts nach, ist vielleicht sogar besser, aber das ist Kleingeld.

Horace Andy und Sherwood legen ein grandioses Spätwerk vor. Auf der Insel vergleicht man Midnight Rocker mit jenen Arbeiten, die Produzent Rick Rubin einst für Johnny Cash und dessen Reihe American Recordings produziert hat. Den Vergleich muss man nicht gutheißen, aber dass hier ein Dreamteam zusammengefunden hat, wird schon im Opener klar. Und schlechter wird’s nicht. Im Gegenteil. (Karl Fluch, 22.4.2022)