Ohne Schauspiel, dafür mit Sprecherinnen und Expertinnen wie Jutta Menschik-Bendele: "Nicht sehen".

Foto: Karlheinz Fessl

Noam Brusilovsky, 1980 in Israel geborener Schöpfer von Bühnenproduktionen und Hörspielen, gilt als Experte für den theatralischen Umgang mit unmenschlichen Verbrechen. Für Adolf Eichmann: Ein Hörprozess erhielt er im Vorjahr den Deutschen Hörspielpreis der ARD. Jetzt hat ihm das Stadttheater Klagenfurt die künstlerische Aufarbeitung des schockierendsten Falles von Kindesmissbrauch in Kärnten anvertraut, des Falles Primarius Dr. Franz Wurst: Nicht sehen.

Ohne Schauspiel im eigentlichen Sinn, mit Petra Morzé und Axel Sichrovsky als Sprecher der 250 bis heute bekannt gewordenen Betroffenen, mit der Psychoanalytikerin und ehemals frühzeitigen Mahnerin Jutta Menschik-Bendele und zwei weiteren Expertinnen, vor allem auch mit acht Jugendlichen, die arglos vom Angebot an Pornografie und Drogen im Darknet plaudern, schafft Brusilovsky die bedrückende Atmosphäre.

Ungehörte Alarmrufe

Ach ja, da ist auch noch der Nachtwächter Horst Ragusch, der angestellt ist, die Bewohner vor Gefahren zu warnen. Er kannte die NS-Vergangenheit der in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in Kärnten amtierenden Politikers so gut wie die "Götter in Weiß" in den sogenannten Heilanstalten. Alle Alarmrufe wurden in den Wind geschlagen. Wie Jeffrey Epstein und Ghislaine Maxwell in den USA soll der gebürtige Wiener Franz Wurst, ab 1968 Leiter der "Heilpäd" am LKH Klagenfurt, Minderjährige auch an eine wohlhabende Klientel zu Missbrauchszwecken vermittelt haben. Viele der "Kunden" leben bis heute als unbescholtene Honoratioren.

Ähnlich den kirchlichen Internaten waren auch Wursts Kinder Gefangene einer geschlossenen Institution. Nach den nationalsozialistisch geprägten "wissenschaftlichen" Kriterien Wursts waren Vierjährige, die nach einem Schokoladestück griffen, prädestiniert für eine kriminelle Karriere und bedurften der heilpädagogischen Behandlung. Zu dieser gehörte, so die Rechtfertigung des Kinderarztes 2002 vor Gericht, die "Zuwendungsbehandlung zur Überwindung von Berührungsängsten".

Aufrüttelnder Abend

Aufgeflogen ist der Skandal nicht durch die Hilferufe der Kinder. Die wurden 40 Jahre überhört. Sondern durch eine dramatische Entwicklung im Hause Wurst: Thomas H., das 17-jährige Patenkind, das Wurst acht Jahre lang sexuell missbraucht hatte, begann, ihn finanziell zu erpressen. Wurst zahlte, bis seine Frau Hilde das gemeinsame Konto sperren ließ. Daraufhin stürzte sie die Treppe hinab. Wie die Polizei herausfand, war sie schon vor dem Absturz erwürgt worden. Thomas H. als Ausführender erhielt 12 Jahre, Franz Wurst als Anstifter sowie Missbrauchstäter in (damals bekannten) 16 Fällen 17 Jahre Haft, wovon der 82-Jährige gesundheitshalber nur vier Jahre verbüßen musste, ehe er 88-jährig verstarb. Klagenfurts aufrüttelnder Abend ist übrigens der zweite Anlauf, sich dem Stoff auf der Bühne zu stellen: Die Salzburger Festspiele hatten bereits 2006 eine Oper mit einem Libretto von Elfriede Jelinek in Planung. (Michael Cerha, 21.4.2022)