Ein Bursche (Nils Arztmann) wird in einem Bibliothekskeller gefangen gehalten. Ein Schafsmann (Peter Wolf) wird zu seinem Verbündeten.

Foto: Victoria Nazaro

In der schmalen Erzählung Die unheimliche Bibliothek schickt der japanische Bestsellerautor und Literaturnobelpreisanwärter Haruki Murakami einen Burschen in ein Bibliotheksverlies. Auf den Wunsch nach Infos zum Steuerwesen im Osmanischen Reich von einem cholerischen Bibliothekar hinabgeführt, findet er sich als Gefangener wieder. Murakami mag alltägliche Situationen, die eine abgedrehte Entwicklung nehmen. Der Bursch soll die ihm gereichten Wälzer, gekettet an ein Bett, auswendig lernen. Danach wird der Alte sein Hirn essen, denn volle Gehirne schmecken köstlich!

Dem Publikum von Jacqueline Kornmüllers Inszenierung des Stoffes im Odeon-Theater ergeht es besser. Sie formt ihn in 70 Minuten zum fein gearbeiteten poetischen Abend, für den sie ein Meer aus Buchrücken zum strengen Raster aufgestellt hat: abweisend, aber in Blau, Grün und Grau auch sehr schön anzusehen. Die Strottern und Peter Rom steuern vom Bühnenrand her die Musik mal zart flatternd wie ein Schmetterling, mal jazzig und mal gechillt bei. Klemens Lendl fungiert zurückblickend auch als Erzähler. Die Grundhaltung des Abends ist radikal sanft.

Menü von André Heller

Schon der Gang in den Keller ist ein gekämpfter Tango des Burschen (toll: Nils Arztmann) mit dem Bibliothekar (Christian Nickel). Seine erste Panik wird vom Auftauchen eines schönen stummen Mädchens (Manaho Shimokawa) schnell gemildert. Wenn uns die Gerichte der köstlichen Menüs, die es ihm serviert, singend aufgezählt werden, klingt das wie Poesie von André Heller. Derart beseelt fliegt der namenlose Muttersohn regelrecht durch die Seiten, obwohl er kein Türkisch kann. Ein Mann mit Schafskopf (Peter Wolf) serviert ihm dazu Donuts.

Kornmüller hat etwa mit ihrer Ganymed-Reihe im KHM Sinn für prägnante Miniaturen bewiesen. Die oft ins Tänzerische ausgreifenden Gesten sind auch diesmal feinsinnig gesetzt: Yoshie Maruoka entpuppt sich mit laut knallendem Stempel als strenge Bibliothekarin. Das macht die verträumt-fantastische Handlung zwar nicht fetter: Mal flackert da ein Höhlengleichnis auf, mal geht’s dort um Liebe, Freiheit. Es gelingt aber ein sinnlich verrätseltes Gesamtkunstwerk. (Michael Wurmitzer, 22.4.2022)