Elisabeth Moss kommt dem Mörder auf die Schliche, trotzdem dieser über eine spezielle Fähigkeit verfügt.

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Filmriss. Kirby steht vor ihrer Wohnungstür, läutet, klopft. Klopft noch einmal. Komisch, die Mutter müsste zu Hause sein. Sie ist ja immer zu Hause. Aber nichts. Oder doch. Ein fremder Mann öffnet. Kirby erschrickt. Falsches Apartment. Nein, hier wohnt keine Frau und auch sie, die erwachsene Tochter, nicht, sagt der Mann und deutet nach oben. 3B, einen Stock höher, da sei sie daheim. Und tatsächlich: 3B, der Schlüssel passt. Hat sich Kirby in der Tür geirrt? Eher nicht, denn als sie die Tür öffnet, zeigt sich ein Raum, der vollkommen anders aussieht, als jener, den sie heute Morgen verlassen hat – wir Zuseherinnen können davon Zeugnis ablegen. Und in der Küche steht auch nicht die Mutter, sondern Marcus, deren Lebensgefährte. Irgendetwas stimmt hier gröber nicht.

Jedenfalls sind die Dinge in "Shining Girls" wieder einmal nicht, was sie scheinen, und die Assoziation mit der Serienlegende "Twin Peaks" ist nicht die einzige Verbindung zu Mystery-Ikonen und Mördermythen der 1990er-Jahre. "Shining Girls" ist ab 29. April auf Apple TV+ abrufbar.

Grausame Morde nach demselben Muster

Die Story spielt auf mehreren Zeitebenen, hauptsächlich in Chicago im Jahr 1992. Kirby Mazrachi (Elisabeth Moss) arbeitet im Archiv der "Chicago Sun Times". Als eines Tages die Leiche einer seit zwei Jahren vermissten Frau aufgefunden wird, sieht der Reporter Dan (Wagner Moura) seine Chance auf eine große Reportage. Durch ihre Arbeit im Archiv erhält Kirby Einblicke und erkennt die Handschrift des Täters. Auch sie war sein Opfer, sechs Jahre ist das her, sie kam aber mit dem Leben davon. Kirby vertraut sich Dan an, will aber anonyme Quelle bleiben, also nicht als Opfer an die Öffentlichkeit gehen. Unterdessen passieren weitere grausame Morde nach demselben Muster. Der Mörder (Jamie Bell) zeigt sich bald, er hat ein freundliches Gesicht, gute Manieren – und eine weitere, in Kombination mit einem Serienkiller überraschende Fähigkeit.

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Die Serie switcht nach dem gleichnamigen Buch der südafrikanischen Schriftstellerin Lauren Beukes zwischen den Zeiten und katapultiert Zuseherinnen und Zuseher in immer neue Situationen. Die Brüche in der Handlung sind Methode, nicht zuletzt geht es darum, das Serienkillerthema um einige Nuancen zu erweitern.

1991 kam "Das Schweigen der Lämmer" ins Kino und damit eine neue Form der Erzählung des Serientätermotivs. Die Story vom charmanten Monster Hannibal Lecter, der hilft, eine andere Bestie zu finden, bevor das nächste Opfer stirbt, sorgte für bleibenden Eindruck und veränderte das Genre von Grund auf. "Shining Girls" knüpft daran an, aber nicht der Täter hilft, den Mörder, zu fassen, sondern das Opfer selbst handelt – nicht zuletzt ein starker Ausdruck der Selbstermächtigung.

Stilprägender Kinofilm

Wie im stilprägenden Kinofilm wissen die Zuschauerinnen und Zuschauer von Anfang an, wer der Mörder ist. Die Serie "Shining Girls" zieht unter anderem daraus ihre Spannung: zu sehen, wie der Killer sein Opfer ausfindig macht, ihm nachstellt, es anspricht – und dann zuschlägt oder eben nicht. Daneben erfolgt die fieberhafte Recherche von Kirby und Dan, gekennzeichnet von Fortschritten und Rückschlägen, nicht zuletzt vonseiten eines skeptischen redaktionellen Umfelds.

Es ist nicht ganz einfach, dieses auf eine einzige Story fokussierte Spannungskonstrukt über die gesamte Strecke aufrechtzuerhalten. Acht Folgen sind eine lange Zeit. Strapaziert werden etwa Szenen mit dem "Wow, wir haben jetzt gerade einen total wichtigen Hinweis auf den Mörder entdeckt"-Effekt. Derlei Redundanzen werden durch ein wunderbar wandelbares Figureninventar von Moss, Moura und Amy Brenneman als ausgeflippte Hippie-Mama ausgeglichen. Ganz sicher unterstreicht Apple TV+ aber mit "Shining Girls" seine Kompetenz in Sachen Quality-TV. Mit Serien wie "Severance", "WeCrashed", "The Last Days of Ptolemy Grey", "Pachinko" und "Roar" hat die Plattform des Elektronikriesen seit heuer zweifellos einen richtig guten Lauf. (Doris Priesching, 28.4.2022)